Fast eine Woche ist er nun her, der 2. Bundesparteitag 2010 der Piratenpartei in Chemnitz. Mit einigem Abstand und nach einigen entspannten Urlaubstagen versuche ich mich an einem Resumée. Dieses fällt, wie wir sehen werden, reichlich zwiegespalten aus.
Beginnen wir mit den positiven Aspekten: Es war ein schöner Anlass, viele bekannte Gesichter mal wieder zu sehen! Ich saß bei einer Gruppe aus Berlin und wir haben uns die ganze Zeit über gut verstanden, auch wenn wir längst nicht immer gleich abgestimmt haben…
Dass der Zusammenhalt gut ist, sah man auch an anderen Details: In den Hotels standen stets Trauben von Piraten zusammen und haben über alles mögliche geredet – sogar über Politik. Und für besonders „preisbewusste” Teilnehmer gab es die Möglichkeit, umsonst zu übernachten – allerdings in einer eher gewöhnungsbedürftigen Herberge. Der Begriff „Abbruchhaus”, der auf dem Parteitag kursierte, war jedenfalls nicht völlig falsch. Die abendliche Feier dort war ganz nett, aber ich gebe offen zu, dass das schrottige Ambiente nicht wirklich mein Fall war – und noch viel weniger die größere Menge an sturzbetrunkenen Gästen, die glasigen Blicks durch die Gegend wankten.
Kommen wir zum Parteitag selbst. Hier war die Vorbereitung sicher besser als bei so manchem früheren Zusammentreffen, aber gerade bei den Teilnehmern ist da immer noch viel Luft nach oben. Wir hatten eine jederzeit souveräne und wohlorganisierte Versammlungsleitung – trotzdem gab es häufig laute Nachfragen Einzelner, was gerade passiert. Da kann man aufpassen. Zumal einige Teilnehmer wiederholt meinten, ihre Meinung laut gröhlend kund tun zu müssen. Jungs, das war ein Parteitag und kein Bierzelt auf dem Dorfmarkt…
Neben der sehr guten Versammlungsleitung fällt die Leistung der Technik umso stärker ab: Dass wir mit 90 Minuten Verspätung gestartet sind, lag hauptsächlich an der massiv rückkoppelnden Audioanlage. Und dass das Internet einfach kommentarlos eineinhalb Tage quasi gar nicht funktioniert ist angesichts der hochgradig auf Onlinemedien ausgerichteten Diskussionskultur bei den Piraten ein äußerst schwerwiegender Faux-Pas. Ich – und einige andere – konnte mich per UMTS informationsseitig über Wasser halten, aber etliche Piraten saßen diesbezüglich schlicht auf dem Trockenen. Die vollmundige Ankündigung zu Beginn, man könne „1000 LAN- und 1000 WLAN-Anschlüsse” bereitstellen, war somit eher virtuell zu verstehen. Schade.
Soweit dazu. Kommen wir zur eigentlichen Hauptsache, den politischen Ergebnissen. Hierzu ist zunächst mal positiv festzuhalten, dass es überhaupt welche gibt. Das ist ja schonmal mehr, als einige im Vorfeld erwartet haben. Der Weg dorthin war aber ein steinig und meines Erachtens zweifelhaft.
Ich hatte ja schon letzte Woche geschrieben, dass wir einen Zielkonflikt haben: Viel zu viele Anträge für viel zu wenig Zeit. Dieses Problem ist weitestgehend hausgemacht. Die naheliegende Lösungsmöglichkeit, zuzusehen dass man die Sachen abgestimmt bekommt, wird von einem Teil der Piraten mit geradezu fundamentalistischen Eifer abgelehnt. Das sei „undemokratisch” und man müsse „Debatten zulassen”. Im Ergebnis wird dann aber genauso undemokratisch vorgegangen, indem bestimmte Themengruppen von vornherein von der Behandlung ausgeschlossen und zu allem Überfluss dann auch noch eher willkürlich die Anträge durchgegangen werden. Während ein ordnungsgemäß eingereichter Parteiprogrammantrag eigentlich keine Chance hatte, auch nur am Rande gestreift zu werden, konnte ein abgelehnter Antrag zum Grundsatzprogramm problemlos im Parteiprogramm reüssieren. Sowas nenne ich Willkür in Reinkultur.
Und die Debatte? Oh weh. Halbgare Statements dafür oder dagegen, statt Argumenten Behauptungen und vor allem: Keinerlei Einfluss auf die Abstimmung. Die Resultate waren immer genauso, wie es die Meinungsbilder am Anfang vorausgesehen hatten – lediglich von eventuellen Einflüssen der Alternativabstimmungen verwässert. Sich mit klaren Dingen weiter zu beschäftigen ist eine sehr ärgerliche Form der Zeitverschwendung.
Zum Ende hin wurde es dann noch bunter: Bei wirklich umfangreichen Programmerweiterungen zum Umweltschutz wurde auf eine echte Debatte aus Zeitgründen faktisch verzichtet, vor allem wurde sie kaum noch wahrgenommen. Bei denjenigen, die das für „besser” halten als das vorgeschlagene Konzept zur Kurzdebatte mit nachfolgender Abstimmung und gegebenfalls ausführlicherer Debatte („EWLS”) muss die Fähigkeit zur Selbsttäuschung schon ausgesprochen ausgeprägt sein.
Reflexion ist aber sowieso vieler Piraten Sache nicht. Oder wie sonst ist es zu erklären, dass bei einem Meinungsbild mit 95% Zustimmung trotzdem noch Piraten im Dutzend an den Mikrofonen stehen und die immer gleichen Plattitüden auf das Publikum loslassen. So geschehen beim „Grundsicherungsantrag” und später nochmal beim „Fliegenden Gerichtsstand”. Hier wurde viel, sehr viel Zeit sinnlos verplempert.
Ebenso haben wir erhebliche Zeit damit vertan, über offensichtlich unausgegorene Anträge zu verhandeln. Die komplette Phalanx der Transparenzanträge (GP098 ff.) hätte noch mindestens drei Runden durch die Vorbereitung drehen müssen, damit sie stilistisch brauchbar und mehrheitsfähig sind. Da kann man jetzt zwei Stunden drüber diskutieren. Man kann aber auch einfach sagen „So nicht!” und die an sich gute Idee zurück in Richtung Feinschliff verweisen. Genauso wird es mir ewig ein Geheimnis bleiben, warum es Teilnehmer gab, die über einen Antrag diskutieren mussten, der zweisprachige Kindergärten fordert, dabei aber noch nicht mal das verwendete Deutsch richtig hinbekommt. Hier fällt die Dummheit Einzelner der Gemeinschaft in geradezu unerträglicher Weise zur Last. Ob das auch mit der „Kostenlosmentalität” vieler Teilnehmer zusammenhängt? Wer für kleines Geld anreist und für lau übernachtet, dem ist es vielleicht auch weniger wichtig, dass ein solches Zusammentreffen ergebnisorientiert abläuft. Das ist dann aber denjenigen gegenüber umso unfairer, die Zeit und Geld für dieses Wochenende investiert haben – und gegenüber den politischen Zielen der Piratenpartei.
Eine andere Möglichkeit zu höherer Effektivität wäre, die Qualität der Anträge zu steigern. Hier muss man ganz klar sagen, dass Liquid Feedback eine eher unrühmliche Rolle gespielt hat. Gerade von dort sind die übelsten Antragsmachwerke gekommen, teilweise von unbekannten oder nicht anwesenden Autoren, teilweise mit unvorbereiteten Ersatz-Antragstellern. Was geht in jemandem vor, der auch noch das letzte unzusammenhängende Wortkonglomerat aus dem LQFB-System herausklaubt und als Antragsmüll über der Versammlung auskippt? Der dann alle von ihm eingebrachten Anträge zu Beginn der Veranstaltung zurückzieht und sie „nur eingebracht hat, damit andere sie übernehmen können”? Sorry, aber das ist keine Politik, das ist infantiles, selbstverliebtes Kasperletheater. Die Partei braucht dringend Mechanismen, die derartigem Quatsch schon im Vorfeld eines Parteitages einen Riegel vorschieben. Denn über das Motto „Denke selbst!” lässt sich das Problem ja offensichtlich nicht lösen.
Was bleibt nun von den angenommenen Anträgen? Nunja, wirklich glücklich bin ich nicht. Die vielbeschworene „Programmerweiterung” ist geschafft und von der Grundtendenz her passen die Anträge zu unseren bisherigen „grundsätzlichen Ideen”. Mehr aber auch nicht. Und ein gutes Gefühl habe ich auch nicht. Nehmen wir nochmal die „Grundsicherung”, den „GP050”. Das ist sicherlich eine wichtige Programmerweiterung und die überwältigende Mehrheit, mit der dieser Antrag beschlossen wurde, ist auch ein wichtiges Zeichen in die Partei hinein. Aber der Preis könnte hoch sein. Mit Recht habe ich schon auf diesem Parteitag mehrfach gehört, dass das sozusagen die Vorarbeit für einen „echten” Programmpunkt „Bedingungsloses Grundeinkommen” ist. Ganz unabhängig von der Sinnhaftigkeit dererlei Anliegen wird dies die Partei in den nächsten Monaten zu einem Magneten für BGE-Verfechter aller Art machen und damit drei Probleme auslösen: Erstens wird es schwer sein, mit diesen Menschen sinnvolle, konsensfähige Forderungen zu formulieren, dazu ist ihr Eifer viel zu groß. Erschwerend kommt zweitens dazu, dass die BGE-Klientel kaum Berührungspunkte mit unseren (bislang) zentralen Themen hat: Urheber- oder gar Patentrecht will dort kaum jemand fundiert erörtern und selbst die bürgerlichen Grundrechte sind nur in Teilen relevant. Und schließlich wird es Drittens eine Herausforderung, der Öffentlichkeit plausibel zu machen, dass wir trotz aller unausgegorener BGE-Lyrik noch eine ernstzunehmende politische Kraft sind. Ich hoffe, wir schaffen das.
Ein ganz besonders dickes Ei hat der Parteitag der Partei übrigens mit dem Antrag zu §173 gelegt. Wie blöd kann man eigentlich sein? Selbst wenn die Forderung begründbar ist, selbst wenn sie gerechtfertigt ist, selbst wenn sie sein muss: Warum jetzt? Warum wir? Es ist ja nicht so, dass wir nichts zu tun hätten, nun müssen wir auch noch in Zukunft ein hochemotionales Thema mit einer kontrovers anmutenden Forderung verargumentieren. Wir werden viele Ressourcen dafür aufbringen müssen, es wird uns Sympathisanten vergraulen und ewige Diskussionen einbringen. Das war eine bemerkenswerte politische Instinktlosigkeit.
Aber dieser fehlende politische Instinkt zog sich durch die Veranstaltung. Da gibt es am Samstag eine dpa-Pressemeldung, die hoffen lässt, dass nicht weniger als eine politische Kernforderung der Piraten umgesetzt wird: Die Justizministerin will nächstes Jahr alle in den letzten Jahren beschlossenen „Sicherheitsgesetze” auf den Prüfstand stellen und unnötige ersatzlos streichen. Das ist – sollte es so passieren – sensationell. Und was passiert auf dem Parteitag? Das zuständige Vorstandsmitglied hält es nicht für nötig, auf die Bühne zu kommen. Der Veranstaltungsleiter liest die Meldung uninspiriert vom Blatt ab. Der Saal klatscht höflich. Und in den hinteren Reihen sieht man den Deutschen Michel selig schlafen. Hoch lebe der politische Durchblick.
Der Parteitag in Chemnitz war sicher besser als so mancher davor. Es besteht aber nicht der geringste Anlass zu Selbstzufriedenheit, die Tage in Chemnitz haben mal wieder gezeigt, dass wir immer noch meilenweit davon entfernt sind, wirklich effektiv „Politik zu gestalten”. Politische Willensbildung ist bei den Piraten bislang immer noch eine Kakophonie von Einzelstimmen, die sich – wenn es gut läuft – zufällig einen Standpunkt zu eigen machen. Von strukturierter, weitsichtiger Planung von Inhalten oder gar dem Setzen von Themen in der öffentlichen Diskussion sind wir nach wie vor weit entfernt. Das dazu nötige strategische Vorgehen benötigt viel stärkere Strukturen und Vorgaben, zum Beispiel durch Vorstände oder in der Partei weithin akzeptierte Arbeitsgruppen. Der in der großen Teilen der Partei extrem ausgeprägte Individualismus und die gleichzeitigte „Lust am Krawall” lassen mich aber zweifeln, ob sich so etwas umsetzen lässt.
Und so überwiegt denn bei mir insgesamt leider momentan der Zweifel am Projekt „Piratenpartei”. Auch wenn der völlige Misserfolg nicht eingetreten ist – der große Wurf war dieser Parteitag nicht. Der zentrale Identifikationspunkt der Partei waren in der Vergangenheit die Freiheits- und Bürgerrechte in der vernetzten Welt. Diese Themen spielten in Chemnitz aber nur eine untergeordnete Rolle. Dabei sind sie wichtiger denn je: ACTA nimmt eine politische Hürde nach der anderen, das Moratorium in Sachen Vorratsdatenspeicherung ist unter Dauerbeschuss von CDU-Hardlinern, der „Dritte Korb zum Urheberrecht” kommt so sicher wie das Amen in der Kirche. Und hier hat selbst unsere Justizministerin, die ansonsten tapfer das letzte Bollwerk gegen den Grundrechtsabbau darstellt, schon anklingen lassen, dass es ein „Leistungsschutzrecht für Verleger” geben wird. Alles in allem eine höchst unbefriedigende Gesamtsituation.
Früher hätte ich gesagt: Die Piratenpartei ist heute wichtiger denn je. Heute muss ich das abwandeln in: Die politischen Ziele, für die die Piratenpartei früher stand, sind heute wichtiger denn je. Ich werde mir in den nächsten Monaten sehr genau anschauen, wohin das Piratenschiff segelt und ob die Piratenpartei und die Ziele, für die ich sie stehen sehe, in Einklang bleiben. Wenn die Entwicklung hier in eine falsche Richtung läuft, dann könnte es passieren, dass ich mir eine neue politische Heimat suchen muss.
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Hallo Dirk,
vielen Dank für den umfangreichen Artikel. Ich stimme dir nicht in allem zu, kann aber viele deiner Punkte nachvollziehen. Zu zwei Sachen wollte ich aber noch explizit antworten.
„Während ein ordnungsgemäß eingereichter Parteiprogrammantrag eigentlich keine Chance hatte, auch nur am Rande gestreift zu werden, konnte ein abgelehnter Antrag zum Grundsatzprogramm problemlos im Parteiprogramm reüssieren. Sowas nenne ich Willkür in Reinkultur.
Hier verwirrst du den Leser unnötig. Es gab Anträge zum Parteiprogramm, bzw. Grundsatzprogramm – diese Begriffe bezeichnen das selbe – die mit dem Zusatz GP gekennzeichnet waren und bald von der Redaktionskommission in einen Vorschlag für eine Erweiterung unseres aktuellen Programms eingearbeitet wird. Das andere waren Positionspapiere (PP) und Anträge zum Wahlprogramm (WP), was aber in der Realität das gleiche bedeutet: Die Piraten haben zu diesem Punkt offiziell Position bezogen – einen Anspruch, in irgendeinem Programm aufzutauchen, gibt es dadurch nicht.
Die Aussage dahinter teile ich aber. Während so manches gute Positionspapier (PP/WP) nicht behandelt wurde, da wir uns zu Beginn darauf geeinigt haben, nur über GP zu sprechen, haben manche grottenschlechte GP-Anträge es zur Verabschiedung als PP gebracht, da man sich ja in der Sache einig sei. So ein undemokratischer Prozess, der im Grund genommen nur ein Zugeständnis an das Unvermögen mancher Antragerarbeiter(!) ist, einen korrekten Antrag zu schreiben, den man mit gutem Gewissen in sein Grundsatzprogramm schreiben möchte, lädt geradezu dazu ein, in Zukunft nur noch GP zu stellen, wenn man ein PP verabschiedet haben möchte.
„Eine andere Möglich keit zu höherer Effektivität wäre, die Qualität der Anträge zu steigern. Hier muss man ganz klar sagen, dass Liquid Feedback eine eher unrühmliche Rolle gespielt hat.”
Hier würde ich dir deutlich widersprechen. Du hast in deinem Artikel korrekt die Probleme aufgezeigt, die dazu führten, dass wir teilweise über sehr schlechte Anträge debattierten. Ich persönlich war auch sehr enttäuscht davon, dass die Piraten im Axel Müller-Verfahren einen Block, der zum größten Teil dämliche/überflüssige Anträge enthielt (Transparenz) und einen, der gar keine (!) GP-Anträge enthielt auf die obersten Plätze hievten. An dieser Stelle muss ganz klar auf die Sitzungsleitung (die es versäumte, den Teilnehmern in übersichtlicher Form darzustellen, über WAS sie jetzt Axel Müllern soll) und die Antragskommission (bzw. ihre eingeschränkten Möglichkeiten, dazu blogge ich aber selbst noch unter htt://enigma424.wordpress.com ) verwiesen werden.
Liquid Feedback als Tool verantwortlich zu machen, halte ich für extrem unsinnig. Wenn nun jemand jede Forderung, die sich im Wiki versteckt als Antrag gestellt hätte, hättest du dann das Wiki verurteilt? Wenn jemand jede Forderung, die im Internet steht, … du siehst wohin das führt. Dass dies aber nicht mit dem Internet geschah, sondern mit LF, zeigt, welch hohe Qualität die Anträge dort schon erreichen. Der Fehler war also ganz eindeutig, sich nicht vor Vermassung zu schützen, besser vorzusortieren und auch früher festzulegen, was überhaupt auf dem Parteitag besprochen werden soll.
BTW, genausogut hätte man sagen können, es war ein Fehler der Teilnehmer über Anträge, die eine überwältigende Mehrheit in LF hatten, überhaupt diskutieren zu wollen – eine Aussage, die ich so natürlich nicht treffen würde, die aber genau so logisch ableitbar wäre wie deine obige.
„Ob das auch mit der „Kostenlosmentalität” vieler Teilnehmer zusammen hängt? Wer für kleines Geld anreist und für lau übernachtet, dem ist es vielleicht auch weniger wichtig, dass ein solches Zusammentreffen ergebnisorientiert abläuft. Das ist dann aber denjenigen gegenüber umso unfairer, die Zeit und Geld für dieses Wochenende investiert haben? — ?und gegen über den politischen Zielen der Piratenpartei.”
Wie ich oben schon geschrieben habe, war ich auch von einigen Entscheidungen des Plenums recht enttäuscht. Auch deine Kritik, dass wir viel zu lange über nicht diskussionsrelevante Punkte diskutiert haben, teile ich. Dies jedoch auf die zu geringen Kosten (lies:Hürden) für die Anreise zu reduzieren, halte ich für völlig in die falsche Richtung gehend. Wir haben tatsächlich ein Demokratiedefizit auf Parteitagen. Denn die Anreisekosten sind für die Mitglieder unterschiedlich hoch. Wer vom Veranstaltungsort weit entfernt wohnt, der zahlt mehr. Wer weniger verdient, der empfindet die Kosten als höher als die anderen. Beide dieser Mängel fallen durch ein Delegiertensystem bzw. eine Fahrtkostenübernahme für Teilnehmer nicht an. Unser Ziel sollte es aber sein, ALLE Hürden für politische Beteiligung zu reduzieren, für Beteiligung IN der Piratenpartei natürlich erst recht. Bis wir also eine wirklich gute Lösung für die momentane sehr unbefriedigende Situation erschaffen haben (dezentrale Parteitage oder ähnliches), müssen wir zumindest alle anderen Beteiligungshürden so stark wie möglich senken. Durch das Zurverfügungstellen von Schlafplätzen (Abbruchhaus/Halle) und das Organisieren von gemeinsamen Fahrten (zB die kostenlose Busfahrt von Berlin, die ich für Bingen organisiert habe) kann man die anfallenden Kosten für Teilnehmer soweit reduzieren, dass man das Demokratiedefizit zumindest etwas mindert.
Was wir aber beide kritisieren, ist eigentlich mangelnde Vorbereitung und Trollerei. Dies ist natürlich seit Beginn der Partei als auftauchendes Problem bei geringen politischen Hürden bekannt. (Ich erinnere dich an unsere Diskussionen 2007/2008 über die Trollerei auf der NDS-ML) Und Trollerei kann auch durch ein Delegiertensystem nicht verhindert, ausreichende Vorbereitung und Abstimmen nach dem eigenen Gewissen nicht erzwungen werden. Das heißt, die Partei muss ich selbst schützen, indem sie sich sinnvolle Strukturen gibt und stärker führt, lenkt und informiert. Von der Aussage, dass die zu geringen Anreisekosten, wichtige Arbeit behindert hätten, würde ich dir insofern eine Distanzierung empfehlen.
Es grüßt in die (Fast-)(Ex-)Heimat,
Fabio
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Hi,
Ich mag ja gelegentlich Deine Art nicht so sehr. Aber das ist nichts Besonderes und trifft bei mir auf einige Piraten zu.
Ich stimme auch in eingen Punkten mit Deiner Meinung nicht überein.
Trotzdem: Ich erkenne an, dass Du Dir mit dem „Projekt” Piratenpartei viel Arbeit gemacht hast und hoffentlich auch noch weiterhin machst. Ich meine auch zu erkennen, dass Dir die „Kernziele” der Piratenpartei sehr am Herzen liegen.
Ich mag es auch, wenn ich Deine Meinungen lese… denen ich zwar oft nicht zustimme… die aber ebenso oft wohlbegründet und überlegt sind.
Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass es mir lieber wäre, Du bliebest dabei… Unüberlegte Meinungsäusserungen gibt es wahrlich schon genug in der Partei.
Denn das mit der „Intelligenz der Masse” funktioniert IMHO nur anständig, falls Einzelne Denkanstösse liefern, die die Masse dann zum Nachdenken anregen, woraus dann etwas Grösseres entstehen könnte, als der Einzelne liefern kann.
Und niemand hat behauptet, dass es einfach werden würde… Also gib bitte nicht auf.
Sicher hast Du in vielem Recht.
Doch behalte im Hinterkopf, dass die Piratenpartei eine Partei im Lernprozess ist. Ich rechne mal schwer damit, dass die Prozesse sich weiterentwickeln und verbessern. Inhaltlich heißt eine thematische Erweiterung auch nicht, dass die „klassischen” Piratenthemen plötzlich abgeschrieben wären.
Auch war Chemnitz erst Teil eins der inhaltlichen Festlegung und auf den folgenden Bundesparteitagen wird weitergemacht. Mängel können dann beseitigt, Programmlücken geschlossen und das Themenspektrum erweitert werden, um eine Bürgerrechtspartei für das 21. Jahrhundert zu formen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Das Lernprozess-Argument wird interne Kritiker wohl noch bis 2030 begleiten. Anders ist seine Anbringung selbst 4 Jahre nach der Gründung nicht zu deuten.
Du schreibst, dass eine thematische Erweiterung nicht zwangsweise dazu führen muss, dass die „klassischen” Piratenthemen plötzlich abgeschrieben wären.
Faktisch ist das jedoch teilweise in Chemnitz geschehen.
Ausgeführt an meinem persönlichen Lieblings-Thema Urheberrecht:
Der wachsweiche Antrag GP 118 mit erdrückend starkem Anschein, sich mit einer vollständigen (=auch ideelen) Entrechtung der Urheber 10 Jahre nach Erstveröffentlichung als Elefant im Porcellan-Laden anzustellen, wurde angenommen. Die ganze AG Urheberrecht war jeder einzelnd für sich betrachtet dagegen, wie auf der internen Mailingliste nachträglich herauskam.
Der hahnebücherne „Geistiges Eigentum”-Antrag fand über 150 Piraten (!), die diesem zugestimmt haben;
deutlich produktivere und substanzvollere Anträge zum Urheberrecht, die mit langer Vorlaufzeit veröffentlicht und diskutiert wurden, kamen gar nicht erst zu Ansprache – Ausgestochen vom formellen Antragsform-Hopping mit egozentrischen Absichten.
Das Problem mit dem BGE-Befürworter-Zustrom ist mir auch bereits in den Sinn gekommen, Dirk. Ich leg’ es jedoch anders als du aus:
Imho haben BGE-Befürworter große Schnittpunkte mit unseren Kern-Bereichen, allerdings mangelt es ihnen stark an Sachkundigkeit in diesen; zudem wird auch der fehlende Bezug zum Anspruch, eine neue, sachliche Art von Politik zu kultivieren, zukünftig sicher schwer verdaulich für die Piratenpartei sein.
Den Vorgeschmack dafür lieferte bereits die BGE-Diskussion am Abend des ersten Veranstaltungstags.