Ich muss mal wieder eine Politikeräußerung in diesem schönen Blog aufgreifen. Diesmal vom Vorsitzenden der Fraktion der Grünen in der Bürgerschaft in Bremen, Matthias Güldner. Herr Güldner äußerte sich am gestrigen Sonntag (in einem mittlerweile nicht mehr online verfügbaren Artikel) in der Welt zum Thema Internetsperren. Interessant ist dabei die Einstellung, die er zur politischen Auseinandersetzung allgemein an den Tag legt:
Es geht [bei der Auseinandersetzung um die Internetsperren] vielmehr knall hart [sic!] um Definitionsmacht in Zeiten der Virtualisierung der Welt. Ihre Anhänger kämpfen mit hoch effektiven Mitteln für die Rechtsfreiheit ihres Raumes.
Eine falsche Behauptung und eine üble Unterstellung. Bei der ganzen Netzsperrendiskussion geht es nicht um „Definitionsmacht”. Es geht um die Freiheit des Einzelnen und die verfassungswidrige Einführung staatlicher Zensur, zumal noch im Geheimen und unüberprüfbar. Dann wäre das Internet nämlich der vielbeschworene „rechtsfreie Raum”, in dem der Staat ohne Rücksicht auf die demokratische Grundordnung Informationen beliebig unterdrücken und Meinungskontrolle betreiben kann. Herr Güldner hat offensichtlich überhaupt nicht verstanden, wie Kommunikation heute funktioniert und mit welch einfachen Mitteln sie sich aushebeln lässt.
Wer sich in ihre Scheinwelt einmischen will, wird mit Massenpetitionen per Mausklick weggebissen.
Aha. Das hält der Herr Güldner also von demokratischer Meinungsäußerung und Mitbestimmung. Ein erschreckendes Weltbild. Allerdings passt dazu, dass er hier geheime Sperrlisten befürwortet und auch ansonsten mehrmals in seinem Text die Grenze zur wüsten Polemik deutlich überschreitet.
Wer Ego-Shooter für Unterhaltung, Facebook für reales Leben, wer Twitter für reale Politik hält, scheint davon auszugehen, dass Gewalt keine Opfer in der Realwelt fordert. Anders kann die ignorante Argumentation gegen die Internetsperren gar nicht erklärt werden.
Ignorant ist hier höchstens dieser Versuch einer Argumentation. Jeder einzelne Absatz auf der Webseite des AK Zensur ist fundierter als ein kompletter Vortrag jedes einzelnen Netzsperrenbefürworters. Neben der Freiheit der Kommunikation ist ein zentrales Anliegen der Netzsperrengegner der Opferschutz. Die geradezu kindesmissbrauchbeschützenden Auswirkungen des Zensurgesetzes sind ja einer der Hauptkritikpunkte derjenigen, die Ahnung von der Materie haben.
Auch wird behauptet, das Gesetz nütze nichts gegen Kinderpornographie. Jeder weiß, dass es kein Allheilmittel ist. Aber in Skandinavien wurden schon positive Erfahrungen mit vergleichbaren Gesetzen gemacht.
Genau! In Finnland ist zum Beispiel schon 2008 sehr positiv aufgefallen, dass etwa 99% der Inhalte der Sperrlisten nichts mit Kinderpornografie zu tun hatten (englischsprachige Originalquelle). Das klingt nach einem hervorragenden Mechanismus. Anschließend haben übrigens 12.000 begeisterte Finnen eine von diesen bösen Massenpetitionen unterschrieben, die den Rücktritt der Ministerin forderten.
Ich habe mich an dieser Stelle gefragt, warum Matthias Güldner diesen und anderen – mit Verlaub – Quatsch schreibt. Die Antwort liefert der letzte Absatz seines Pamphlets:
Teile der Grünen – fasziniert von den Möglichkeiten der virtuellen Mobilisierung und hingerissen von ihrem eigenen Getwitter – erkennen, dass unsere Wähler und Wählerinnen eine hohe Affinität zu Menschenrechtsfragen haben, erst recht wenn Kinder die Opfer sind. Unser Umfeld kommt zu einem nicht unerheblichen Teil aus den erziehenden Berufen, ist selbst Mutter oder Vater. Die Internetsperren haben Umfragen zu Folge bei ihnen eine hohe Popularität.
Güldner richtet sich nach innen. Zu seinen Mitgrünen. Weil so viele Mamis und Papis das zensierte Internet toll finden, müssen die Grünen auch dafür sein. Bloß denen nicht erklären, warum die Netzsperren kein bisschen helfen und dass ihre – weitgehend irrationale – Angst um die eigenen Kinder hier skrupellos selbst missbraucht wird. Zum Glück dürften auch die meisten Anhänger der Grünen nicht so uninformiert sein für wie Herr Güldner sie hier halten will.
Der politische Makel, mehr auf den Trend gesetzt zu haben als auf die Bekämpfung realer Menschenrechtsverletzungen, würde dagegen lange haften bleiben.
Wenn der „Trend” hier „willkürliche staatliche Zensur und verfassungwidrige Gesetze” und die „Menschenrechtsverletzungen” das „Recht auf freie Information und Meinungsäußerung” sind, dann stimmt der Satz sogar. Er war aber anders gemeint. Und das finde ich erschreckend.
Das sind also die Grünen 2009. Opportunistisch, obrigkeitsstaatlich, ohne Ahnung. Vielleicht vertritt Herr Güldner hier nur eine Einzelmeinung und das beängstigende Bild wird in den nächsten Tagen von der Bundesebene oder anderen Grünen wieder gerade gerückt. Vielleicht ist das aber auch der erste Testballon, wie weit man die Basis zu CDU-Positionen tragen kann. Ursula, Wolfgang und Angela werden es interessiert zur Kenntnis nehmen.
Und euch hab’ ich mal gewählt! Was bin ich froh, dass es auf dem Wahlzettel eine Alternative gibt.
@Martin Möller
Die Grünen sind nicht technikfeindlich und Güldner ein Einzelfall? Glaub ich kaum, ein schönes Beispiel für die erzkonservative Einstellung grüner GenossInnen zu Computerspielen liefert z.B. Renate Künast:
http://www.youtube.com/watch?v=po33La1N974
Mit der Einstellung könnte sie auch CDU/CSU Mitglied werden. Und da frage ich mich schon, ob es beim Thema Internet dann so arg anders aussehen dürfte in den grünen Köpfen …
@Hannes Kempfert:
Ich bin selbst Grüner und war entsetzt von dem Beitrag aus Bremen. Unisono höre ich von den anderen Grünen mit denen ich in Kontakt stehe nur Ablehnung gegen Matthias’ Aussagen. Sie entsprechen im Übrigen auch nicht der Beschlusslage irgendeiner Parteigliederung.
Das die Grünen technikfeindlich sind, kann ich nun nicht unkommentiert stehen lassen. Es gibt kaum eine Partei die das Internet so angenommen und ernst genommen hat wie die Grünen. Wesentliche Teile der Parteiarbeit laufen auf Online-Platformen ab. Anders als viele andere Pareien, bei denen nur mal ein paar PR-Auftritte online sind, nutzen wir das Internet intensiv und produktiv für die innerparteiliche Kommunikation und als Partizipationsplatform. Gerade die Prinzipien der Basisdemokratie lassen sich in einem Internetumfeld sehr gut pflegen.
Letzten Endes sind die Grünen in weiten Teilen nach wie vor technikfeindlich eingestellt, schon aus parteihistorischen Gründen. Diese technikfeindlichkeit überträgt sich natürlich auch auf die zunehmende Vernetzung der Bürger und ignorieren somit deren freiheitliche Grundrechte. Solange diese Kräfte in der Partei agieren (und die Zensurabstimmung hat ja gezeigt, wie stark diese Denkweise noch in der Partei verankert ist) sind die Grünen nicht wählbar. Wirklich Bürgerrechtsorientierte Wähler sollten sich das Parteiprogramm der Piratenpartei einmal näher ansehen. Es werden viele Knackpunkte, dessen Lösungen die Entwicklungsrichtung unserer Gesellschaft für die mittelbare Zukunft prägen werden, aus einem modernen, offenen Blickwinkel angegangen.
#5 Stefan: ich hatte heute morgen einen ähnlichen Gedanken. Ein Schelm, der hier eiskalte Berechnung vermutet. Es gibt ja auch genug ÖkoInnen, die auf „PorNo”, „Emma” & Co. schwören und „gegen KiPo muß man doch jedes Mittel” als Begründung nehmen für eine Nichtablehnung des Schandengesetzversuchs vom 18.6.
Die wollen schließlich auch vertreten werden, gell?
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…und jetzt sind die Kommentare der Leser zu dem Güldner-Artikel auf welt.de auf einmal weg.
Antwortbrief der Grünen Jugend auf Güldner: http://www.gruene-jugend.de/show/597839.html
Hallo Dirk,
lies doch mal bitte dies hier: http://www.spreeblick.com/2009/07/27/dont-feed-the-trolls/#more-20284
🙂
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Man merkt einfach, dass es in die heiße Phase des Wahlkampfes geht. Um Wählerstimmen zu fangen, sind alle Mittel legitim, besonders Polemik. Das Recht der Kinder quasi vor den Tatbestand der Zensur zu setzen ist dabei ein genialer Schachzug um die „nicht-internetaffine” Generation zu gewinnen. Diese macht ganz sicherlich einen großen Prozentsatz der Bevölkerung aus.
Ich hoffe einfach, dass die Piraten es schaffen diese Themen in das Deutsche Bewusstsein zu bringen. Auch ich hatte anfangs Probleme mit der Argumentation der Piraten. Auch für mich war das Gesetzt augenscheinlich ein gutes Mittel. Doch mit etwas mehr Überblick, habe ich dann gesehen, welche Instrumente der Zensur hier denn legalisiert wurden.
Die Piraten sollten, wie sie es bereits machen, sich als Aufklärer positionieren. Die Argumentation muss auch für „Nicht-Internetaffine” Menschen verständlich sein. Ich habe mal ein einem Kommentar gelesen, wie ein Piratenanhänger einen Menschen der sich eigentlich nur um die Rechte der Kinder sorgte, damit abtat, er solle sich mal mit seinem Netzwerkadministrator zusammensetzen und sich das ganze erklären lassen. Solche Kommentare helfen nicht wirklich. Auch wenn es anstrengend ist, und man sich permanent wiederholen muss, es geht hier um Aufklärung.
Ich hoffe noch viel von den Piraten lesen zu dürfen.
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Besonders beeindruckend fand ich seinen Hinweis auf das reale Leben. Dies von jemanden, der sein Leben in der Uni, in einer NGO und der Politik verbracht hat. Für mich ist das virtueller, als das Internet.
Es gibt Grüne, die das völlig anders sehen als Herr Güldner. Jörg Rupp ist zum Beispiel einer, der öffentlich entgegenhält: http://www.joergrupp.de/216/meine-e-mail-an-matthias-guldner/
Die Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber von Rechtsnormen ist schon erschreckend. Und die pauschale Diffamierung von den Petitionsunterzeichnern unerträglich.
http://verlorenegeneration.de/2009/07/26/zur-unertraglichen-ignoranz-eines-grunen/
Ich freue mich immer wieder aufs neue für kostenlose Wahlkampfwerbung für die Piraten. 🙂
Unerwartet, dass es diesmal von einem Grünen kam, aber was solls.
Der erste Grüne ist wegen dieses Vorfalls übrigens unmittelbar danach schon aus der Partei ausgetreten:
http://falsepositive.eu/archives/20090726-Offener-Brief-an-Matthias-Gueldner-und-ich-trete-bei-den-Gruenen-aus/123