Unsere Familienministerin hat sich höchst ministrabel in einem Interview bei Radio Sputnik produziert:
Das oberste Ziel muss sein, die Täter zu stellen. Das ist Polizeiarbeit. Und das zweite entscheidende Ziel muss sein, die Quelle zu löschen auf dem Server, da, wo sie sind. Aber da gerät man an seine Grenzen, wenn der Server z.B in Indien steht. Ein hochkompetentes Land, was Computertechniken angeht, aber ein Land, das keinerlei Form von Ächtung von Kinderpornografie hat. Da können sie nicht mehr löschen.
Es ist frappierend, wie perfide Frau von der Leyen hier mit unterschwelligen Ressentiments arbeitet: Indien, ein Land voll von Computernerds, die nachts über ihren Nachwuchs herfallen. Und diesen Horden von Unholden sind wir quasi schutzlos ausgeliefert, da können wir gar nichts machen. Verräterisch ist vor allem das Wort „Ächtung” – da schwingt ganz übel die Moralkeule mit, die hier auf den Subkontinent niedersaust: Sie tun nicht nur nichts gegen das Übel, es ist ihnen auch noch egal.
Dass Zensursulas Äußerungen unerträglich sind, wurde bereits an verschiedenen Stellen im Web thematisiert. Ich möchte aber noch etwas weiter gehen, denn auch hier sieht man wieder, wie mit dem Totschlagwort „Kinderpornografie” gesellschaftliche Fragen und Entwicklungen in Tabusoße ertränkt werden.
Es gibt da nämlich tatsächlich ein Problem in Indien. Science Daily schreibt:
High Prevalence Of Child Marriage In India Fuels Fertility Risks
The study, […] found that nearly half of adult Indian women, aged 20 to 24, were married before the legal age of 18 […].
„The prevalence of child marriage remains unacceptably high,” Dr. Raj and colleagues wrote. „These results suggest that neither recent progress in economic and women’s development, nor existing policy or programmatic efforts to prevent child marriage and promote maternal and child health, have been sufficient to reduce the prevalence of child marriage in India to that of most other developing nations.”
The study found that 44.5 percent of women ages 22 to 24 were married before age 18. More than one in five – 22.6 percent – were married before age 16, while 2.6 percent were married before age 13.
Übersetzung (von mir):
Hohe Verbreitung von Kinderehen in Indien erhöht Risiken für die Fruchtbarkeit
Ergebnis der Studie war, dass fast die Hälfte der erwachsenen indischen Frauen zwischen 20 und 24 Jahren bereits vor ihrem 18. Lebensjahr und damit dem erlaubten Alter für Eheschließungen verheiratet worden waren.
„Die Verbreitung der Kinderehe bleibt inakzeptabel hoch,” schrieben Dr. Raj und ihr Team. „Diese Ergebnisse deuten an, dass weder die jüngsten Fortschritte in der Wirtschaft oder der Frauenförderung, noch polizeiliche Intervention oder Aufklärungsprogramme über Gesundheit von Mutter und Kind ausreichend waren, diese Verbreitung von Kinderehen in Indien auf das Level in anderen Entwicklungsländern zu verringern.
Die Studie ergab, dass 44,5% der Frauen im Alter von 22 bis 24 verheiratet wurden, bevor sie 18 Jahre alt waren. Mehr als eine von fünf – 22,6% – war bei der Heirat jünger als 16 und 2,6 heirateten vor Beginn ihres 13. Lebensjahres.
Das ist in der Tat ein gesellschaftliches Problem, hier sind die Menschenrechte der verheirateten minderjährigen Mädchen (was ist eigentlich mit minderjährigen Jungen?) nicht gewahrt. Wenn man nun mal für einen Moment unterstellt, dass Frau von der Leyen sich auf genau diese gesellschaftlichen Probleme in Indien bezieht, wenn sie von „fehlender Ächtung” spricht, dann habe wir mal wieder ein enthüllendes Beispiel für den „Missbrauch mit dem Missbrauch”: Kinderehen und die damit latent einhergehende sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen sind falsch und müssen verfolgt werden. Das man „nichts machen könne” ist aber ein Märchen, denn das Problembewusstsein in der indischen Politik ist durchaus vorhanden und sogar leichter Rückgang der Fallzahlen feststellbar, wie der Science-Daily-Artikel schreibt:
The authors said that […] there had been a slight reduction – 5 percent – in the rate of child marriage compared with national data from 1998 – 99[…]
Übersetzung:
Die Autoren sagen, dass es eine leichte Verminderung von 5% bei der Rate von Kinderehen vergleichen mit den Zahlen von 1998/99 gegeben hat.
Viel problematischer finde ich allerdings, dass hier, sofern man diesen Hintergrund für Frau von der Leyens Aussagen annimmt, mal wieder auf jede Situation mit dem Begriff „Kinderpornografie” eingedroschen wird. Bei Kinderehen geht eben nicht um Pornographie. Vielmehr wird irgendein Szenario, in dem Kinder vorkommen und es irgendwie um Sex geht, hergenommen, „Kinderporno” draufgeschrieben und dann die Saudas Kuh durchs Dorf getrieben. Frau von der Leyen fiele kein Zacken aus der Krone, wenn sie wenigstens die Situation korrekt beschriebe, bloß wäre das ganze dann leider kein Argument mehr für die heiß ersehnte Internetzensur. Dieser Satz nochmal zum Mitmeißeln, damit es nicht heißt, ich würde irgendwas kleinreden wollen: Die Verheiratung von Minderjährigen ist für mich kein hinnehmbares Gesellschaftsmodell, aber sie taugt nicht als Argument in der Diskussion um „Kinderpornografie”.
Soweit meine Überlegungen dazu, woher Frau von der Leyens Aussagen kommen könnten, wenn man einen wie auch immer gearteten Realitätsbezug herzustellen versucht. Vielleicht bin ich aber auch mal wieder viel zu blauäugig und „Indien” war in Wirklichkeit nur dasjenige Land, dessen Name ihr am schnellsten einfiel. Sozusagen ihr „Uruguay oder Paraguay”… Dafür spräche, auch das ist mittlerweile an anderer Stelle ausreichend erläutert, dass es in Indien nicht nur eine restriktive Gesetzgebung zu Pornografie allgemein, sondern seit Februar 2009 auch noch ergänzend zu „Kinderpornografie” im Besonderen gibt.
Im selben Interview entlarvt sich Frau von der Leyen schließlich selbst, wenn Sie auf Richtervorbehalt und damit Gewaltenteilung angesprochen antwortet:
Na ja, überlegen Sie sich mal bei der Masse der Bilder, also wir sprechen von rund 1000 Seiten, die pro Tag international aktiv gesperrt werden, wie Sie da über jede Seite einen “Richter”, in Anführungsstrichen, wie Sie’s nennen, drübergucken lassen wollten, dann ist das technisch absolut unmöglich, allein vom Zeitaufwand, wenn man sieht, wie Gerichte auch mit Themen beschäftigt sind, nicht machbar wäre.
Genau. Weil diese ganzen „Richter” ja sowieso alles mögliche andere zu tun haben und uns beim Sperren von 1000(!) Seiten täglich eh nur stören würden, lassen wir sie mal lieber damit in Ruhe. Und, so rege ich an, dann doch am besten auch mit diesem ganzen anderen blöden Gerichtsverhandlungs- und Urteilskram. Braucht man alles nicht, macht die Uschi selbst eh viel besser:
Meine Arbeit ist es, Kinder zu schützen und das will ich damit tun.
Ich würde mal sagen, es sind auch schon Politiker für weniger wirre Äußerungen vor die Tür gesetzt worden.
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Danke Dirk, du hast die Emotionen, die bei mir bei dem Interview hochkochten, sehr schön in Worte gefasst.
Die indischen Zeitungen wurden ja mittlerweile angeschrieben. Bin mal gespannt ob, und wenn ja: wie die reagieren. Das könnte noch „lustig” werden, wenn Fr. von der Leyen öffentlich als Lügnerin auffliegt.