Als die drei Kandidaten auf die Bühne gehen, frage ich mich unwillkürlich, ob es da einen Dresscode gegeben hat: Alle drei in dunklen Anzügen, mit weißen Hemden und ohne Krawatte – als wäre es abgesprochen. War es wohl aber nicht, aber trotzdem symbolisch: Häufiger als man es vielleicht erwartet hätte, wird an dem Abend einer der Kandidaten einem anderen ausdrücklich zustimmen oder gleicher Meinung sein. Und das in jeder möglichen Konstellation.
Die Hannoversche Allgemeine Zeitung veranstaltet zwei Kandidatenforen zur anstehenden Neuwahl des hannoverschen Oberbürgermeisters. Bei der gestigen ersten Veranstaltung standen die drei Kandidaten auf der Bühne, denen die größten Siegchancen zugesprochen werden: Marc Hansmann von der SPD, Belit Onay von den Grünen und der parteilose Eckhard Scholz, den die CDU nominiert hat. Es ist meines Wissens das erste öffentliche Aufeinandertreffen der drei in so einem Rahmen in diesem Wahlkampf. Das macht es natürlich besonders spannend – was sich auch am ausverkauften VHS-Saal zeigt.
Das Forum, vom stellvertretenden HAZ-Chefredakteur Felix Harbart moderiert, konzentriert sich ganz auf Bürgerfragen an die Kandidaten. Diese konnten vorab gestellt per E‑Mail gestellt werden und sind dann im Vorfeld gruppiert worden. Ich finde dieses Format gut, da damit die Veranstaltung dauerhaft in Schwung bleibt und langatmige Fragen aus dem anwesenden Publikum vermieden werden. Der Themenkanon ist dabei nicht überraschend – und viele Antworten auch nicht. Dennoch bietet sich so die Möglichkeit, etwas mehr über die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Schwerpunkte der drei Kandidaten zu hören.
Beispielsweise zum Thema Verkehr, mit dem die Fragerunde beginnt. Hier zeigen sie die Unterschiede der drei Kandidaten besonders deutlich: Zwar wollen alle irgendwie etwas am Verkehr ändern. Und klar, Rad- und Fußverkehr sind wichtig, aber die Schwerpunkte sind deutlich unterschiedlich. Für den CDU-Kandidaten Scholz gehört zur neuen Mobilität „natürlich auch das Fahrrad”, aber man dürfe auch die 160.000 bis 250.000 Pendler nicht vergessen. Deshalb soll es auch „keine Verbote geben” – in vielen Fällen gibt es halt keine Alternative zum Kfz. Auch zum Thema „autofreie Innenstadt”, von Harbart mit der Grenze Cityring vorgeschlagen, gibt es vom Kandidaten Scholz eine klare Absage: „Hannover hat nicht die Infrastruktur für eine autofreie Innenstadt.”
Hansmann will damit punkten, dass er selbst weder Auto noch Führerschein hat, sein Lebensgefühl aber nicht „anderen aufzwingen” will. Er stellt nochmal seine Idee vor, die oberirdisch zum Raschplatz gebaute Stadtbahnlinie in die Südstadt zu verlängern – freilich ohne sich auf eine Linienführung festlegen zu wollen: „Das überlasse ich den Experten.” Immerhin: Er sieht die Notwendigkeit, Platz im Straßenraum vom Auto- auf den Radverkehr zu übertragen. Die Erzählung vom Beinaheunfall auf dem – per Rad zurückgelegten – Weg zur Veranstaltung kommt bei mir leider mehr als Anekdote denn als Ansatzpunkt für die Verkehrswende an, dabei ist sie symptomatisch dafür, was in Hannover in der Verkehrspolitik schief läuft.
Einen konkreten Plan nennt Onay: Die Innenstadt soll bis 2030 autofrei werden, die zehn Jahre bis dahin werden die Konzepte mit allen Beteiligten abgestimmt. Das Ziel sind neue „Wohlfühlräume” in der Innenstadt – und eine Attraktivitätssteigerung. Onay sieht solche Veränderungen auch als notwendig für den Einzelhandel an: Ein attraktives Umfeld wird vor dem Hintergrund der immer noch stärker werdenden Online-Konkurrenz überlebenswichtig für eine lebendige Innenstadt.
Auch andere Verkehrsthemen werden angerissen: Hansmann spricht das erste Mal am Abend von „Null Toleranz” – bei E‑Rollern auf dem Fußweg nämlich. Bemerkenswert, dass er den Gefährten 40 km/h Gechwindigkeit unterstellt. Auch Scholz hat da gemischte Gefühle – zumal für die Sicherheit von Fußgängern ja auch gesorgt werden muss. Onay will erstmal „den Hype abwarten” und wünscht sich, dass die überstürzten Gesetzgebungsprozesse auf der Bundesebene den Kommunen mehr Leitlinien zur Regelung an die Hand geben.
Das Thema wechselt. Es geht um die Sicherheit im öffentlichen Raum. Man hat ja manchmal den Eindruck, ganz Hannover besteht nur noch aus Mord und Totschlag – was ich selbst als Einwohner des Brennpunktgebiets Sahlkamp definitiv nicht teilen kann. Auch die Kandidaten sehen ein Spannungsfeld zwischen oppressivem „law and order” und unterstützender Sozialarbeit – mit erwartunggemäß unterschiedlichen Schwerpunkten. Den seit etwa einem Jahr aktiven Ordnungsdienst sehen sie alle positiv. Für Onay liegt das Hauptaugenmerk aber trotzdem auf der sozialen Arbeit, da die Probleme sonst nur verlagert würden. Hansmann betont eher die gute Zusammenarbeit zwischen Ordnungsdienst und Polizei: „Die Sozialarbeit hat manche Gruppen nicht mehr erreicht.” Scholz hingegen sieht zwar auch, dass „Vertreibung keine Lösung” ist, bleibt ansonsten aber blumig: „Ich sehe keine konsequenten Lösungsansätze.” Wie die aussehen könnten, sagt er freilich nicht. Hansmann kommt mit der – zugegebenermaßen originellen – Idee, den Weißekreuzplatz zu einem großen Spielplatz zu machen um dort den Alkoholkonsum unterbinden zu können – was Onay aber auch nicht als nachhaltige Lösung ansieht.
Bei der Abwägung von Wohnungbau und Umweltschutz sind sich alle einig: Es muss mehr gebaut werden. Die Diskussion verzettelt sich ein wenig bei der Schwarzen Heide am Stadtrand. Onay bringt die Idee ins Spiel auch über Ansiedlugen in Nachgemeinden in der Region Hannover als Alternative zum weiteren Zubauen des Stadtgebiets nachzudenken. Die beiden anderen wollen die Menschen hingegen „in der Stadt” halten. Hansmann bringt erneut seine Idee, dafür den Lindener Hafen aufzugeben und dort Wohnungen zu bauen. Wie er dabei auf die Idee kommt, das Hafengelände sei nicht ausgelastet, kann ich mir allerdings nicht recht erklären. Meines Wissens sind die Industrieflächen vollständig belegt und gerade in den letzten Jahren wurde die Leistungsfähigkeit des Eisenbahnanschlusses nochmal deutlich erhöht.
Die aufgeworfene Frage nach überbordendem Denkmalschutz verengt sich schnell auf das – zugegebenermaßen sehr augenfällige – seit Jahren eingerüstete Bauamt. Kandidat Hansmann hält diesen Zustand für „unmöglich”, verweist aber – unter lautem Gelächter im Publikum – auf das umfangreiche Schul- und Schultoilettensanierungsprogramm, das die Stadt aufgelegt hat. Die süffisante Nachfrage, warum von 31 Toilettensanierungen nach einem Jahr erst eine abgeschlossen sei, bekommt dann aber Onay. Der relativiert erst die Zahlen, „das ist eine Erzählung der CDU”, und verweist auf die insgesamt angespannte Lage im Bausektor, durch die sich die Arbeiten hinzögen. Murren im Publikum. Hansmann gießt sich derweil Wasser ein und vergleicht die Investitionsprogramme etwas schräg mit „halb-vollen” und „halb-leeren” Gläsern. Scholz wirft ein: „Bei den Investitionen ist das Glas zu leer!”
Der Oberbürgermeister ist Chef der Verwaltung. Klar, dass deren Zustand auch Thema ist. Genauso klar wird schnell, dass das Thema für alle drei Kandidaten eine Gratwanderung ist: Die 11.000 Mitarbeiter der hannoverschen Verwaltung sind auch Wähler – und mit denen will man es sich nicht verscherzen. Immerhin: Dass der Chef mit gutem Beispiel vorangehen muss, sagen alle. Scholz verweist auf seine Erfahrung bei VW-Nutzfahrzeuge, „24.000 Mitarbeiter”. Allerdings ohne politische Gremien wie den Stadtrat, wie Moderator Harbart anmerkt. Kein Problem, sagt Scholz, Kompromisse und Aussprachen traut er sich zu.
Onay und Hansmann sind sich einig, dass die Verwaltung ihre Attraktivität als Arbeitgeber herausstellen muss. Außerdem überbieten sie sich geradezu bei den Perspektiven der IT-Modernisierung. Kürzere Wartezeiten, umfassende Digitalisierung – „ich mache Hannover in fünf Jahren zur modernsten Großstadt in Deutschland”, lehnt sich Hansmann unter Raunen im Publikum aus dem Fenster. Onay kontert mit digitalen Behördengängen, Online-Videochats und verweist auf laufende Gesetzgebungsverfahren im Bund, die das in den nächsten Jahren möglich machen: „Dann braucht man gar keine Termine mehr.”
Die Diskussion zum Thema Schulen empfinde ich als merkwürdig. Soll man am Gymnasium auch andere Abschlüsse als das Abitur machen können? „Nein,” sagt Scholz – und ich denke daran zurück, wie ich am Ende der 10. Klasse meinen erweiterten Realschulabschluss ausgehändigt bekommen habe. Aber was weiß denn ich, ist ja auch schon 31 Jahre her. (Oh! Mein! Gott! Einunddreißig Jahre!) Hansmann sieht sich vom Moderator etwas zu deutlich mit der Idee in Verbindug gebracht, Schüler per Bustransfer an Schulen in anderen Stadtteilen zu unterrichten: „In den USA klappt das gut; ich bin offen für die Idee, habe ich gesagt.” Scholz und Onay lehnen das „Busing” ab, Onay will die Schulen in Gebieten mit hohem Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund stärken und sagt dabei für mich einen der wichtigsten Sätze des Abends: „Migrationshintergrund ist kein Nachteil, problematisch ist die Korrelation mit dem Umfeld.”
Natürlich geht es auch um die „Rathausaffäre”. Auftritt Scholz: Es braucht Ursachenforschung, die Vorgänge müssen aufgearbeitet werden, ein Wandel muss her. Für Hansmann ist das Thema sichtlich pikant, immerhin war er bis 2017 selbst Dezernent. Er bremst Scholz mit einem Verweis auf die VW-Affäre aus: „Sie haben ja Erfahrung, ich als Oberbürgermeister würde mir bei der Aufarbeitung wohl von VW beraten lassen.” Lebhafte Buh-Rufe im Publikum. Ansonsten distanziert sich Hansmann sehr deutlich vom zurückgetretenen ehemaligen Oberbürgermeister Schostok: Die Rathausaffäre sei eine Führungskrise gewesen und er ist gegangen, weil er mit der Art der Führung nicht einverstanden gewesen sei. Die Rathausspitze müsse sich „vorbildlich und integer” verhalten. Hansmann bringt dabei das Kunststück fertig, den Namen seines ehemaligen Chefs („der Nachfolger von Stephan Weil”) nicht einmal zu erwähnen.
Onay ist bei dem Thema halbwegs fein raus: Die Grünen sind damals sehr früh auf deutliche Distanz zu Oberbürgermeister Schostok gegangen. Und er verweist darauf, dass das Problem im Wesentlichen die drei Hauptakteure Oberbürgermeister, dessen Bürochef und den Kulturdezernenten betroffen hat. In der Verwaltung hat es ansonsten viele warnende Stimmen gegeben, die aber leider nicht gehört worden seien. In die Zukunft gerichtet sieht Onay Verbesserungsmöglichkeiten in einem „Immunsystem”, „Compliance” und „Good Governance” in der Verwaltung. Ich hätte mir an dieser Stelle schon gewünscht, dass diese Schlagworte mit etwas mehr Leben gefüllt worden wären.
Und dann war da noch das „Gendersternchen”. Mit den Regeln zu „geschlechtergerechter Sprache” ist Hannover in den letzten Monaten in der bundesweiten Presse gewesen. Harbarts Aufhänger ist die Zuschrift von „Herrfrau Dirk Lydia Petersen”. Dieser Mensch fühlt sich durch die neuen Regeln diskriminiert, da – wenn ich das richtig verstanden habe – in Anschreiben nun auf die Anrede verzichtet wird, der erste Vorname allein aber diskriminierend sei (wobei ich persönlich ja den Vornamen „Dirk” eigentlich sehr schön finde…). Herrfrau Dirk Lydia Petersen fragt also, ob die Kandidaten die Regelung wieder zurücknehmen würden. Hansmann prescht vor und laviert gleichzeitig herum: Das Zeichen des „Sternchens” sei gut, aber sowas gehe nicht per Anweisung von oben. Politik und Verwaltung dürften sich sprachlich nicht vom Rest der Bevölkerung entfernen – er würde die Regel rückgängig machen. Dieses Problem sieht Scholz nicht: „Die Schreibweise hat sich durchgesetzt. Ich würde das nicht zurücknehmen.” Und während das Publikum diese klaren Worte des von der CDU aufgestellten Kandidaten noch auf sich wirken lässt, merkt Onay noch an, dass es seines Eindrucks nach schon eine intensive Diskussion in der Verwaltung zu dem Thema gegeben habe.
Leider ist kein einziger der Kandidaten auf den eigentlichen Hintergrund der Eingangsfrage eingegangen – und der Moderator hat auch nicht nachgehakt.
Nach ziemlich genau 90 Minuten endet die Veranstaltung. Ich lasse sie Revue passieren. Einen völlig unerwarteten Knaller hat es von keinem der Kandidaten gegeben – aber auch keinen Ausfall. Scholz war überraschend eloquent. Bei näherem Hinsehen steckt in dem CDU-Kandidaten – parteilos hin, parteilos her – aber halt auch viel CDU: Sicherheit und Ordnung sind wichtig, gerade das „subjektive Sicherheitsgefühl” muss in jeder Beziehung gestärkt werden, und eine Verkehrswende mit weniger Autos in der Stadt würde mit diesem Oberbürgermeister wohl auch kein Selbstläufer werden. Hansmann kennt die hannoversche Verwaltung gut, weil er selbst so viele Jahre ein Teil von ihr war. Das ist vor der Hintergrund der Rathausaffäre irgendwie Fluch und Segen zugleich. Auch wenn er es sicher nicht gerne hört: In einer Stadt, in der seit Gründung der Bundesrepublik immer die SPD den Oberbürgermeister gestellt hat, ist ein SPD-Oberbürgermeister auch immer ein „Weiter so”-Kandidat. Und der Grüne Onay? Der hat mit seinem klaren und mit Zeitplan versehenen Vorschlag für eine autofreie Innenstadt ein Alleinstellungsmerkmal in diesem wichtigen Themenbereich. Zudem ist seine politische Heimat von allen dreien meines Erachtens die progressivste. In seiner ruhigen Art hat er sich zudem bei den Gockeleien, mit denen Hansmann und Scholz sich streckenweise beharkt haben, angenehm zurückgehalten.
Keiner der Kandidaten hat für mich am heutigen Abend einen überragenden Punktsieg gelandet. Keiner hat sich Ausfälle geleistet. Bei allen Kandidaten ist das „politische Komplettpaket” wichtig oder vielleicht sogar Ausschlag gebend, und dazu gehört neben dem Kandidaten auch die Partei. Ich werde mir den Wahlkampf in den nächsten Wochen weiterhin interessiert anschauen. Immerhin darf ja auch ich am 27. Oktober – und ggf 10. November – den neuen Oberbürgermeister von Hannover wählen.
Nächsten Dienstag gibt es übrigens das zweite HAZ-Forum zum gleichen Thema – dann mit den neun anderen Kandidaten und Kandidatinnen.