Abgesehen vom abendlichen Essen habe ich gestern noch genau einen Weg zu Fuß erledigt: Den zum Fahrradverleih. Dabei komme ich natürlich an einem Notarztwagen im Einsatz vorbei, der sich gerade um einen – augenscheinlich nur leichter – verunfallten Radfahrer kümmert. Ich seh’s positiv: Sollte mir sowas passieren, ist wenigstens jemand da, der hilft. – Im Vorfeld hatte ich mich schon informiert und dann hat auch alles prima und wie geplant geklappt: Ich habe für die Zeit in Kopenhagen ein Leihfahrrad. Drei Gänge, tiefer Einstieg, keine großartige Federung – aber für 50 Kilometer am ersten Tag hat’s schonmal gereicht.
Das schöne an ein einer ganz neuen Stadt ist: Es ist egal, wo man langfährt, es ist alles neu. Beherztes zweimaliges Abbiegen nach rechts bringt mich auf den H. C. Andersens Boulevard – und weil es sich so gut fährt fahre ich und fahre und fahre… – bis ich dann mal nach Kilometern mal nachschaue, wo ich eigentlich bin: Die Amagerbrogade ist eine Geschäfts- und Einkaufsstraße und führt über Kilometer schnurgerade nach Süden – bis an den Rand des Flugfeldes des Kopenhagener Flughafens.
Damit ist die Entscheidung gefallen: Zum Einstieg bin ich mal im Kopenhagener Süden. Darauf kaufe ich erstmal zwei Brötchen und folge dann der Straße. Sie kreuzt – bereits ziemlich weit im Süden – die Øresundsmotorvejen – die Autobahn und Eisenbahn zur Öresundquerung und Flughafenanbindung. Weiter und weiter nach Süden geht die Fahrt – bis die Hauptstraße einen Knick nach Westen macht und ein letzter Straßenstummel direkt am Flughafenzaun endet. Beim „Flyvergrillen” könnte ich den Flugzeugen zuschauen. Stattdessen sorge ich für den ersten Bruch des Tages: Fahrrad, Rucksack, Kamera und ich sind noch nicht so recht aufeinander abgestimmt und beim Objektivwechsel kracht mir das Teleobjektiv auf den Boden. Schrecksekunde. Den UV-Lichtfilter hat es erwischt. „Mach den drauf”, hatte mir ein befreundeter Fotograf ganz am Anfang mal gesagt, „wenn das Ding runterfällt, ist nur der billige Filter und nicht die teure Frontlinse kaputt.” Das hat ja schonmal geklappt.
Hier unten bin ich quasi aus der Stadt raus. Die Tømmerupvej ist eine schon ländlich anmutende Straße ohne Fuß- und Radweg. Über die Ugandavej fahre ich ein ganzes Stück nach Westen, bevor es auf der Kongelundsvej wieder nach Norden geht. Beides sind gut ausgebaute Durchgangsverkehrsstraßen und „gut ausgebaut” meint insbesondere: Breite Radwege auf beiden Straßenseiten. Die Abzweigung der Oliefabriksvej ist als Kreisel mit umlaufendem Radweg gebaut – ansonsten fahre ich Kilometer um Kilometer wieder nach Norden.
Direkt hinter der Kreuzung mit dem Øresundsmotorvejen – den werde ich heute noch öfter sehen – geht es dann wieder nach Osten. Mein Fernziel ist der Flughafen, aber hier ist erstmal ein wohl zusammen mit der danebenliegenden Autobahn angelegter Fuß- und Radweg. Kopenhagen-typisch ist hier der Radweg etwa doppelt so breit wie der Fußweg und dazwischen eine deutliche bauliche Trennung – und nicht nur ein simpler Strich.
Ich wollte eigentlich über die Tårnbyvej weiter nach Osten, aber der Kreisverkehr am Englandsvej weckt mein Interesse: Es ist noch zu erkennen, dass hier mal eine weitere Straße in den Kreisel einmündete. An ihrer Stelle findet sich jetzt eine langgezogene Grünfläche mit mäanderndem Weiher und ruhigen Fuß- und Radwegen. Ich ziehe diese der Hauptstraße vor und kreuze so wieder die Amager Landevej – in einer Fuß- und Radwegunterführung. Hier in Kastrup bleibe ich auf Nebenstraßen, kreuze erst die Metrotrasse zum Flughafen und schließlich wieder die Öresundautobahn, um dann schließlich am Flughafen zu landen. Auch hier gibt es eine vollständige Radwegverkehrsführung. Ich pausiere am Terminal 3, das auch direkt an die U‑Bahnendhaltestelle angebunden ist.
Vom Flughafen aus geht es wieder nach Westen, wieder auf den Amager Landsvej – und wieder über die Øresundsmotorvejen. Auf der Brücke mache ich dann den entscheidenden Durchbruch in Sachen Ausrüstung: Durch geschickte Führung der Schultergurte um die Sattelstütze gelingt es mir, den Rucksack sicher auf dem Fahrradgepäckträger zu befestigen. Das hat zwei Vorteile: Zum einen trage ich ihn nicht mehr die ganze Zeit auf dem Rücken und zum anderen komme ich jetzt sogar besser und schneller an die Kamera heran. Erleichtert setze ich die Fahrt fort.
Über die Saltværkswej geht es durch Kastrup ganz in den Osten an die Küste des Øresund. Ein ausgedehnter – und gut bestückter – Yachthafen ist ein sicheres Zeichen, dass ich mich in einer skandinavischen Küstenstadt befinde. Am Horizont liegt die Öresundbrücke im Dunst.
Ich fahre nun wieder nach Norden durch den Amager Strandpark. Im Sommer dürften die breite Strandpromenade und die Dünenlandschaft gut besucht sein – heute ist kaum ein Dutzend Spaziergänger unterwegs. Die wuchtigen Bauten auf dem Gelände erinnern mich ein wenig an die albanischen Betonbunker der Hodscha-Ära – die hier sind allerdings Servicegebäude mit Kiosken, Duschen (auch behindertengerecht) und Toiletten. An einigen könnte man sogar Segways leihen – wenn sie denn offen wären.
Als ich am Nordende des Strandparks ankomme und über den Øresundsstien wieder aufs „Festland” fahre, erweist sich der Wetterbericht leider als zutreffend: Es fängt an zu regnen: Erst seicht, dann stärker, dann so, dass es ärgerlich wird. Ich mache erstmal eine Einkaufspause bei Lidl und warte dann an der Ecke Øresundsvej/Amager Strandvej ab. Nein, es wird nicht besser. Und der Wetterbericht – ich habe Internet! – sagt, dass es die nächsten Stunden weiterregnen wird. Also schlägt die Stunde des Equipments: Ich hole das Regenzeug raus und setze die Fahrt fort – und zwar so wie geplant und nicht auf dem direkten Weg ins Hotel; „wir sind doch nicht aus Zucker”, pflegte meine Oma in solchen Situationen immer zu sagen.
Ungezuckert, dafür von innen und außen zunehmend durchfeuchtet, geht es also weiter: Auf der Øresundsvej durch Amager Øst, dann auf der Englandsvej durch Amager West, auf der Vejlands Allé am Amagerfælled vorbei und dann ist plötzlich der Radweg zu Ende. Wie? Nein, 20 Meter von der Straße entfernt geht er gut ausgebaut weiter. Ich war entweder unaufmerksam – was auf Grund des Wetters kein Wunder wäre – oder hier ist tatsächlich eine Lücke in der Ausschilderung der Radspuren.
Auf dem gut ausgebauten – und ab hier auch wieder komplett beschilderten – Radweg geht es weiter. Auf der Sjællandsbroen nach Sydhavn. Es regnet weiter vor sich hin, aber ich bin alles andere als allein auf dem Radweg. So langsam beginnt der Feierabendverkehr. Und den merkt man hier nicht nur auf der Straße, sondern eben auch auf dem Radweg. Und das massiv.
Es hat seinen Grund, warum die Radwege hier breit genug für zwei Räder nebeneinander sind: Das ermöglicht das Überholen. Wenn man wie ich mit mittlerer Geschwindigkeit unterwegs ist, stellt sich dabei schnell so eine Art „Autobahngefühl” ein: Bevor man zum Überholen ansetzt: Immer schauen, ob von hinten jemand kommt. Und häufig kommt jemand. Kopenhagener sind geübte Radfahrer und ehe ich mich’s versehe, stehe ich mitten in einem Pulk von 20 Radlern an einer Ampelkreuzung.
Wenn das Wetter etwas besser gewesen wäre, hätte ich in vollen Zügen genossen und sicherlich etliche Fotos gemacht. Da ich aber merke, dass ich trotz Regenzeug langsam vollständig durchweiche, fahre ich in eins durch und lande über die Enghavevej und die H. C. Ørsteds Vej am Åboulevard und schließlich im Hotel, wo ich das Fahrrad auf dem Hof abstelle und mich erstmal unter die Dusche verziehe.
Der Abend bringt dann nur noch ein leckeres Sushi in der Nachbarschaft und ein bisschen Schokolade aus dem Supermarkt. Merke: Wer 50 Kilometer Fahrrad gefahren ist, der darf sich auch mal eine Extraportion gönnen. Und allzuviele Extraportionen wird es angesichts des allgemeinen Preisniveaus in Kopenhagen wohl nicht geben…