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Einmal, so gegen Mittag des zweiten Tages, da drohte der Landesparteitag der niedersächsischen Piraten in den alten Trott zu verfallen: Irgendwelche Satzungsanträge standen da im Raum, mehr oder weniger gut vorbereitet. Die eine Hälfte der Versammelten wusste nicht recht, um was es ging. Die andere war sich nicht einig, was die Anträge bedeuten sollten. Alle hatten irgendwie das Gefühl, über etwas zu reden, was schon Thema gewesen war. Die berühmt-berüchtigte Rednerliste für Geschäftsordnungsanträge schien aus der Versenkung aufzutauchen. Und der Versammlungsleiter hatte die Veranstaltung irgendwie nicht so ganz vollständig im Griff. Zum Glück war dies nur eine kurze Episode einer ansonsten überaus gelungenen Veranstaltung.
Dabei hatte alles so gut angefangen. Pünktlich ging’s am Samstag los und das Tempo war geradezu unheimlich. Die AG Satzung hatte sämtliche vorliegenden Anträge zu Satzungsänderungen und zur Geschäftsordnung in einem 61-seitigen Dokument aufbereitet und wie gewünscht hatte sich ein großer Teil der Piraten anhand dessen vorbereitet, wusste worum es ging und konnte in der einstündigen anberaumten Zeit zur Aussprache so gezielt fragen, dass der Versammlungsleiter mehrere Male nachhaken musste, ob denn noch Fragen seien.
Die eigentliche Abstimmung fand dann schriftlich statt: Auf fünf Seiten wurden sämtliche Satzungsänderungsanträge zur Abstimmung präsentiert, zusammen mit der Frage, ob nach Meinung des Abstimmenden der Diskussion Genüge getan sei. So schrumpfte der bei vergangenen Parteitagen so monströse Tagesordnungspunkt „Satzungsänderungsanträge” auf eine knapp halbstündige Phase des Ausfüllens und anschließenden Abgebens der Abstimmungsbögen. Ansonsten musste sich vorrangig ein Team von Wahlhelfern damit befassen, die vielen Tausend Kreuze zu zählen und zusammenzufassen.
Die anschließenden Wahlen zum Vorstand, die die zweite Hälfte des ersten Tages in Anspruch nahmen, waren ebenfalls ausgesprochen zielstrebig. Nach dem überstürzten Abbruch des letzten Parteitages in Langenhagen im November 2009 hatte Niedersachsen nur einen Rumpfvorstand, der nun wieder auf die volle Größe gebracht werden sollte. Jens-Wolfart Schicke und Arne Ludwig wurden als Vorsitzender und Stellvertreter bestätigt, für den nicht mehr angetretenen Arvid kam Meinart als Schatzmeister neu in den Vorstand.
Vor den Wahlen zu den Beisitzern gab es zudem ein Grußwort des amtierenden Bundesvorsitzenden: Jens Seipenbusch war aus seiner Heimatstadt Münster nach Osnabrück gekommen. Er erinnerte sich – und mich – daran, dass Niedersachsen ja eines der ersten Länder war, in dem es 2006 eine entstehende Parteibasis gab: Im Dezember 2006 war er damals auf einem der hannoverschen bzw. niedersächsischen Stammtische. Zu fünft saßen wir damals zusammen – inklusive Jens und seiner Frau. Dass daraus Veranstaltungen wie in Osnabrück geworden sind, zeigt, welch weiten Weg die Piratenpartei in den vergangenen dreieinhalb Jahren zurückgelegt hat. Ich selbst bin zwar kein Gründungsmitglied, aber ich habe die Anfangszeit ja auch noch sehr gut mitbekommen. Man vergisst leicht, wie klein und unscheinbar das alles damals im Gegensatz zu heute war. Piraten in Osnabrück gab es damals noch überhaupt nicht.
Überhaupt – die Tagungsräumlichkeiten. Unsere Verbände in Osnabrück hatten uns in einer Schulaula untergebracht und ein fantastisches Umfeld geschaffen: Wir waren dort komplett unter uns und hatten nicht nur den Versammlungsraum, sondern auch das Forum davor zur freien Verfügung.
Die Technik mit Netzwerk, WLAN und Akustik war nicht zu spüren, weil sie einfach funktionierte. Fürs leibliche Wohl war durch Kines Brötchen-Großeinkauf und die flugs gegründete AG-Nordschnitten ebenfalls gesorgt.
Wie schon letztes Mal in Langenhagen hat der Medienfloh den Videostream der gesamten Veranstaltung übernommen und in den Pausen durch Interviews und andere Beiträge angereichert.
Neu dabei war zudem Dennis Schulze mit dem Piratenradio, der, wenn ich das richtig gesehen habe, die ganze Zeit live vom Parteitag gesendet hat und diverse Interviews und Features produziert. Auch ich bin so mal wieder in den Genuss eines Interviews gekommen, in letzter Zeit ja eher ein seltenes Vergnügen.
Die Beisitzerwahlen hätten durchaus größeres Chaos verursachen können: Bis zu acht Posten konnten besetzt werden und 14 Bewerber standen zur Wahl. Aber alle Beteiligten waren vorbildlich diszipliniert: Die Kandidaten haben sich kurz und knapp vorgestellt, die Anzahl Fragen hielt sich in Grenzen. Einzig das Auszählen war bei den vielen Kandidaten und Kreuzchen etwas anstrengend.
Erstmals wurde bei diesem Parteitag durchgängig nach dem Zustimmungsverfahren abgestimmt: Für jede der Alternativen bei Abstimmungen und auch bei Wahlen kann man „Ja”, „Nein” oder „Enthaltung” ankreuzen, es gewinnt diejenige Alternative mit den verhältnismäßig meisten Ja-Stimmen. Ich war ja bislang diesem Verfahren gegenüber eher kritisch eingestellt, muss aber sagen, dass es sich in meinen Augen bewährt hat: Die Entscheidungen sind transparent und vor allem muss man als Abstimmender nur ein Verfahren verstanden haben. Vielleicht sollte man noch ein wenig an der Bedeutung der Alternativen „Nein” und „Enthaltung” feilen, aber im großen und ganzen halte ich dieses Wahlverfahren für das Beste, das ich bisher in der Piratenpartei (und darüber hinaus) kennen gelernt habe. Auch wenn es natürlich etwas Vorbereitung bei größeren Abstimmungen bedarf…
Angesichts der extremen Laptopdichte auf dem Parteitag habe ich mehr als einmal gefragt, ob man bei einem der nächsten Male nicht versuchen sollte, Abstimmungen und Wahlen und vor allem deren Auszählung stärker zu automatisieren. Teilweise war mehr als ein Dutzend Piraten gleichzeitig mit Auszählen beschäftigt und die entsprechenden Pausen haben die Veranstaltung mehrere Male nennenswert aufgehalten.
Das Verhältnis von Laptops zu Teilnehmern, das ja stets nahe bei 1:1 liegt, war seit jeher eine Spezialität der Piraten, mit der sie sich wohl von allen anderen Parteien unterscheiden dürfte. Ich finde das immer sehr angenehm, weil man mit seiner Affinität zur Technik eben nicht etwas Besonderes, sondern schlicht so wie alle anderen auch ist.
Die diversen Wahlen für Kassenprüfer, Schiedsgericht sowie die jeweiligen Ersatzpersonale zogen sich über den späten Samstag und den frühen Sonntag morgen. All diese Wahlen sind wichtig und nötig, vielleicht sollte aber auch hier nochmal am Prozedere gearbeitet werden: Müssen die Ersatzschiedsrichter wirklich in einer separaten Wahl bestimmt werden? Und müssen Kassenprüfer wirklich geheim gewählt werden? Ich denke, dass man auch hier noch die Effizienz steigern könnte, ohne dass andere Qualitäten der momentanen Verfahren verloren gehen.
Nachdem dann endlich alle Personenwahlen abgeschlossen waren, kam es zur Bekanntgabe der Ergebnisse der Abstimmungen zu den Satzungsänderungen. Bemerkenswert finde ich dabei, dass bei keinem der Anträge weiterer Diskussionsbedarf angemeldet worden war, sodass sämtliche der schriftlichen Abstimmungsergebnisse zunächst gültig waren.
Nicht vergessen möchte ich die „Jungen Piraten”, von denen zwei die niedersächsische Sektion vorstellten und zum Mitmachen und zu Unterstützung aufriefen. Die „Jungen Piraten” sind meines Erachtens ein wichtiges Mittel der Nachwuchsförderung: Hier organisieren sich Jugendliche, Schüler und Studenten zu politischer Arbeit. Es kann der Partei nur gut tun, wenn sie später solche Mitglieder bekommt, die bereits erfahren sind im Umgang mit politischen Prozessen. Es liegt im ureigenen Interesse der Piratenpartei, wenn sie die „Jupis” entsprechend unterstützt, fördert und ihnen zur Seite steht.
Auch einen „Fotoevent” hat es gegeben: Neben etlichen Fotos vom neuen Vorstand, wichtig für die Pressemappe, haben wir auch ein Gruppenfoto aller Anwesenden produziert. Mir kam die Ehre zu, dieses Foto zu schießen und ich hoffe, es ist ein gutes dabei herausgekommen, obwohl ich nicht mit meiner eigenen Kamera gearbeitet habe (engagierter Pirat sucht Sponsor für neue Kamera zur privaten, beruflichen und politischen Verwendung… 😉 ). Hier mal ein Foto, dass mich „bei der Arbeit” zeigt.
Die anschließende Diskussion um §2.2 der Satzung war ebenso engagiert wie nötig und endete mit einem Ergebnis, das Anwesende und Kommentatoren zwischen „überraschend” und „historisch” einordneten. Dazu muss ich mich nochmal gesondert äußern.
Danach jedenfalls ging der Parteitag mit einer weiteren Diskussion und Abstimmung um Änderungsanträge rund um §8.7, der ähnlich wie §2.2 Auskunftsersuchen an Kandidaten und Mitarbeiter stellt, allerdings nicht auf politischer, sondern auf finanzieller Ebene. Auch mit diesen Regeln sind viele Piraten unzufrieden, zu einer Änderung der Bestimmungen fand sich aber an keiner Stelle eine Zweidrittelmehrheit. So bleibt hier erstmal alles beim Alten und das Thema dürfte beim nächsten Parteitag wieder auf die Tagesordnung kommen.
Durch diese Diskussion am Ende ist dann leider der Tagesordnungspunkt „Lessons Learned” nicht mehr behandelt worden. Wir hatten auf diesem Parteitag ja gleich mehrere organisatorische Premieren und es ist durchaus sinnvoll, diese mal zu rekapitulieren. Neben dem oben bereits behandelten Abstimmungsverfahren war das vor allem die schiftliche Abstimmung der Satzungsänderungsanträge. Ich halte dies für einen großen Gewinn, da die Diskussion viel disziplinierter lief als bei den letzten Parteitagen und das ganze zeitlich viel besser steuerbar war. Wir sollten dieses Verfahren unbedingt beibehalten. Berücksichtigt werden muss dabei allerdings, dass es zum einen eine Satzungskommission (oder „AG Satzung”) geben muss, die die gesammelten Anträge aufbereitet und das Dokument erstellt und zum anderen, dass eine derart umfangreiche Abstimmung wie die diesmalige auch für die Wahlhelfer eine erhebliche Belastungsprobe bedeutet.
Ansonsten sind Parteitage, insbesondere so harmonische wie dieser hier, immer eine hervorragende Möglichkeit, mal wieder andere Piraten zu treffen, sich zu unterhalten, herumzuphilosophieren und einfach eine tolle Zeit zu haben. Die Organisation der Osnabrücker Piraten kann eigentlich gar nicht hoch genug gelobt werden: Nicht nur der Veranstaltungsort und die auf die Beine gestellte Verpflegung waren erstklassig, auch die Party am Samstag abend im „Cup & Cups” war toll. Entspannt und fröhlich feierten wir mit extra für uns kreierten Cocktails bis ins Morgengrauen – und dass gegen halb zwei der Rum leergetrunken war, hat der hervorragenden Stimmung keinen Abbruch getan.
Der nächste Parteitag in Niedersachsen findet im Spätsommer in Wolfenbüttel statt. Dann wird es vor allem um das Programm gehen. Ich kann schon jetzt jedem interessierten Piraten nur empfehlen, eine Teilnahme zu planen. Kein virtuelles Medium der Welt kann ein reales Treffen ersetzen!
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@Tim: Ja darüber haben wir Wahlhelfer schon nachgedacht. Echte Stimmzettel, die aber von Maschinen gezählt werden können, würden die Arbeit für die Wahlhelfer doch erheblich erleichtern, ohne einen Sicherheitsverlust darzustellen, denn das Ergebnis kann jederzeit per Hand nachgezählt werden.
Diesmal war es leider so, dass die Wahlhelfer viele interessante Beiträge (z.B. die Rede von Jens Seipenbusch, die Kandidatenvorstellungen etc) gar nicht mitkriegten, weil sie am Zählen waren.
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„Angesichts der extremen Laptopdichte auf dem Parteitag habe ich mehr als einmal gefragt, ob man bei einem der nächsten Male nicht versuchen sollte, Abstimmungen und Wahlen und vor allem deren Auszählung stärker zu automatisieren.”
Wurde schon mal über E‑Counting, also das rechnergestützte Auszählen der Stimmzettel nachgedacht?
Danke für den guten, ausfühlrichen Bericht, bei dem man wirklich einen guten Eindruck gewinnen kann.
Ich möchte Deine Frage gerne beantworten:
„Müssen die Ersatzschiedsrichter wirklich in einer separaten Wahl bestimmt werden? Und müssen Kassenprüfer wirklich geheim gewählt werden? Ich denke, dass man auch hier noch die Effizienz steigern könnte, ohne dass andere Qualitäten der momentanen Verfahren verloren gehen.”
Man könnte alle Wahlen gefahrlos komplett in einem Wahlgang mit einem (mehrseitigen) Stimmzettel analog zu den Satzungsänderungsanträgen abstimmen.
Personen, die dabei in einer früheren Ämter-Gruppe gewählt werden fallen dann in den weiteren Gruppen einfach raus. Durch das verwendete Zustimmungs-Wahlverfahren (und richtige Anwendung desselben durch die Wähler) gehen aber dennoch keine Stimmen verloren und das Ergebnis wird dadurch nicht verfälscht.