So langsam nähert sich die Adventszeit ihrem Ende. Am heutigen vierten Advent gibt es nochmal ein Special in meinem Bilderkalender: Es geht nach Berlin und auf Zeitreise am Bahnhof Gesundbrunnen.
Der Bahnhof Gesundbrunnen liegt im gleichnamigen Bezirk zwischen Wedding und Prenzlauer Berg an der Schnittstelle der Bahnstrecken ins nördliche Berliner Umland und der Ringbahn. Die Zusammenfassung der Strecken an dieser Stelle fand bereits Ende des 19. Jahrhunderts statt, durch die grenznahe Lage und den Niedergang der S‑Bahn in West-Berlin war der Bahnhof Anfang der 1990er Jahre aber äußerst reduziert.
Auf dem Foto aus dem Jahr 1995 sieht man den Bahnsteigbereich des „alten” Gesundbrunnen-Bahnhofes. Er besteht zu diesem Zeitpunkt nur noch aus einem einzigen S‑Bahnsteig längs der Nord-Süd-S-Bahn. Sowohl der Bahnsteig als auch der Treppenaufgang in typischer Berliner „Gewächshausarchitektur” sind noch weitgehend Originalbausubstanz. Auf der Brachfläche im Bildvordergrund befanden sich die beiden übrigen Bahnsteige des Bahnhofes, und zwar direkt neben dem S‑Bahnsteig ein Fernbahnsteig zum Stettiner Bahnhof – die Bahngleise lagen parallel zur S‑Bahn Richtung Humboldthain – und dann der S‑Bahnsteig an der Ringbahn. Daneben lagen dann noch die Fern- bzw. Güterbahngleise längs der Ringbahn.
Die Bahnsteigreihenfolge erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte des Bahnhofes: Zunächst lag hier nur die Ringbahn, die Gleise der Stettiner Bahn wurden erst später hierhin verlegt, ursprünglich verliefen sie längs der Grüntaler Straße. Bei dieser Umverlegung blieben die Gleise der Ringbahn an Ort und Stelle, sodass der Umsteigeverkehr zwischen den S‑Bahnstrecken immer über die Distanz zweier Bahnsteige erfolgen musste. Das zeigt, dass man schon vor 100 Jahren im Zweifelsfall Bahnbauten eher günstig als fahrgastfreundlich realisierte.
Der Stettiner Fernbahnhof wurde bereits kurz nach 1950 stillgelegt, die Fernbahn am Ring wohl im Wesentlichen zum Mauerbau 1961. Die Ring-S-Bahn wurde noch bis 1980 betrieben, allerdings endete sie seit 1961 aus Westen kommend hier. Ab 1980 war dann der hier zu sehende S‑Bahnsteig der letzte betriebene Teil des Bahnhofes. Als ich im März 1989 zum ersten Mal in Berlin war, existierte der alte Ring-S-Bahnsteig noch, war aber nicht mehr zugänglich.
Im Bildhintergrund ist die alte Bebauung des Areals unmittelbar nördlich des Bahnhofes zu sehen. Hier befanden sich vor allem Kleinbetriebe und Kleingärten. Auch der (einzige) Bahnhofsausgang endete dort und nicht wie heute an der Badstraße, sodass das Umsteigen zwischen S- und U‑Bahn ebenfalls mit relativ weiten Wegen verbunden war. Der unterirdische Verbindungsgang war zu dem Zeitpunkt schon lange wegen Baufälligkeit gesperrt.
Zeitwechsel. Dieses Foto entstand etwa an derselben Stelle sechseinhalb Jahre Später. Im Hintergrund steht mittlerweile das Einkaufszentrum „Gesundbrunnen-Center”. Direkt davor befinden sich die beiden neuen S‑Bahnsteige, an denen Ring- und Vorort-S-Bahn künftig gemeinsam im Richtungsbetrieb halten werden. Und im Vordergrund des Bildes sind die Rohbauten der neuen Fernbahnanlagen zu sehen.
2001 war einer der letzten Zeitpunkte, diesen Bereich nochmal aus dieser Perspektive zu fotografieren. Heute geht der Bahnhofsbereich direkt in die Badstraßenbrücke über, sodass man hier heute nicht mehr am Brückengeländer, sondern mitten auf dem Bahnhofsvorplatz steht. Wobei dieser „Vorplatz” auch gleich der Bahnhof ist, weil man aus verschiedenen Gründen auf die Errichtung eines Empfangsgebäudes verzichtet hat. So entsteht die paradoxe Situation, dass die einzigen wettergeschützten Möglichkeiten zum Bahnsteigwechsel entweder der unterirdische Verbindungsgang oder die Galerie im hinteren Bildbereich ist: Dort wurde auch ein neuer Zugang aus Richtung Osten für den Bahnhof angelegt.
Wir wechseln jetzt auf die andere Seite der Badstraßenbrücke und dabei gleichzeitig zurück in das Jahr 1994. Wir sehen die westliche Bahnhofseinfahrt nach Gesundbrunnen. Links im Bild ist der bewaldete Hang des Humboldthains zu sehen. Daneben führt ein wohl nicht mehr betriebenes Gütergleis in Richtung des alten Stettiner Fernbahnhofes, von dem heute nur noch der unterirdische S‑Bahnteil als „Nordbahnhof” in Betrieb ist.
Das Gleis führt vorbei an einem markanten Ziegelsteinbau im Bildhintergrund. Dies ist das erste „Unterwerk” für die elektrisch betriebene Berliner S‑Bahn gewesen und insofern von einer gewissen bauhistorischen Bedeutung. Deshalb findet man es auch noch bis heute an genau dieser Stelle.
Neben dem vermuteten Gütergleis, von dem mehrere blinde Weichen abgehen, führt schnurgerade ein weiteres Gleis durchs Bild. Und nicht nur das: Es ist sogar augenscheinlich noch betrieben, jedenfalls sind die Profile nicht angerostet. Dieses Gleis liegt auf der Fernbahntrasse der Ringbahn und es führte in der Tat noch bis 1994 über den Nordring zum historischen „Nordbahnhof”, dem ursprünglichen Endbahnhof der Strecke nach Stralsund vom Ende des 19. Jahrhunderts, dessen Gelände zwischen Graun- und Schwedter Straße bis zur Bernauer Straße reichte. Zu Zeiten der Teilung Berlins fuhren hier regelmäßig Züge der französischen Besatzungsmacht gen Westen. 1994 war ich zum ersten Mal in Sachen „Bahn” in Berlin unterwegs und ich kann mich erinnern, dass sowohl ich als auch die beiden Kommilitonen, mit denen ich unterwegs war, sehr erstaunt über die Existenz dieses Gleises waren. Auf dem 1995er-Foto vom Anfang dieses Artikels ist das Gleis bereits verschwunden.
Im Bildhintergrund kann man noch die alten Brücken sehen, mit denen die Ringbahn die Trassen zum Stettiner Bahnhof überquerte. Auf den beiden rechten Brücken lagen früher die S‑Bahngleise längs des Ringes. Diese sind 1994 bereits vollständig abgebaut und es wird noch fast ein Jahrzehnt vergehen, bis auf dieser Relation wieder Züge fahren.
Rechts außen im Bild sieht man die S‑Bahn Richtung Humboldthain und Nordbahnhof. Links daneben, von der Böschung der Ringbahn etwas verdeckt, kann man auch noch die Fernbahntrasse zum Stettiner Bahnhof erahnen, die aber zum Zeitpunkt dieser Aufnahme bereits seit langer Zeit nicht mehr genutzt wird und gleislos ist.
1994 war das Pilzkonzept zur Entwicklung der Berliner Eisenbahnanlagen bereits seit zwei Jahren beschlossen und die neue Rolle des Bahnhofes Gesundbrunnen somit festgelegt. Die Bautätigkeit auf dem Bahnhofsgelände setzte aber erst gegen 1997 wirklich ein. Insofern zeigt dieses Bild zwar einen hochgradig historischen Zustand, der letztlich aber nur eine Übergangssituation war.
Zwölf Jahre später. Am 27. Mai 2006 geht der neue Bahnhof Gesundbrunnen in Betrieb und dieses Bild zeigt, wie dieselbe Stelle zu jenem Zeitpunkt aussah. Der Bahnhof hat wieder einen umfangreichen Fernbahnbereich, der allerdings im Westen nur noch auf die Ringbahn führt. Der Stettiner bzw. Nordbahnhof wurde nicht wieder aufgebaut, stattdessen gibt es jetzt einige hundert Meter weiter westlich eine Zufahrt in den ebenfalls an diesem Tag eröffneten Tiergartentunnel für die unterirdische Nord-Süd-Fernbahntrasse. Das Gleis links des Regionalzuges dürfte etwa an derselben Stelle wie das „Franzosengleis” auf dem Foto von 1994 liegen. Im Hintergrund sieht man auch immer noch den alten Brademann’schen Umspannwerkbau, mittlerweile vielfach mit Graffiti versehen.
Die Überwerfung zwischen Ring- und Nord-Süd-S-Bahn ist nicht mehr mittels einer Brücke gelöst. Stattdessen laufen die S‑Bahngleise jetzt in zwei einzelnen Tunneln unter dem Rest des Gleisfeldes her. Die Gleise der Ring-S-Bahn werden im neuen Bahnhof zwischen den Gleisen der Nord-Süd-S-Bahn geführt, was die Umsteigesituation gegenüber dem historischen Bauwerk erheblich verbessert.
Gesundbrunnen ist heute wieder ein wichtiger Fernbahnhof im Berliner Stadtgebiet. Sämtliche Züge nach Norden halten hier als letztem Bahnhof vor bzw. erstem Bahnhof nach dem Hauptbahnhof. Im Westen sind die Zulaufstrecken längs des Ringes und zum Hauptbahnhof seit der Eröffnung fertig, auf der anderen Seite klaffen aber auch heute noch Lücken vergleichen mit dem geplanten Endzustand. So ist bis heute die Direktverbindung zwischen Bornholmer Straße und Birkenwerder („Nordbahn”) nicht wieder aufgebaut, sodass die Fernzüge nach Rostock den Umweg über Karower Kreuz und Außenring nehmen müssen. Auch im Bereich des Ostkreuzes gibt es noch Lücken, die im Rahmen des Neubaus des dortigen Bahnhofes (mit dem man wohl inhaltlich allein einen Adventskalender bestreiten könnte…) geschlossen werden. Insgesamt wirkt der Bahnhof Gesundbrunnen gerade im Fernbahnbereich an einigen Stellen etwas überdimensioniert. Anders herum heißt das aber auch, dass für eine Verkehrszunahme noch genügend Luft nach oben ist. Und das ist für einen gerade vier Jahre alten Neubau ja nie ganz verkehrt.