Ich muss nochmal auf Am Grünen Hagen und Oberricklingen zurückkommen. Da hat ja die Verwaltung – nach Aufforderung des Bezirksrats – durch drei Kfz-Sperren Schleichverkehr aus dem Viertel verbannt. Damit sind Anwohner, Kinder und Radfahrer vor Baustellenumfahrungsverkehr um die wegen einer Komplettsanierung gesperrte Straße In der Rehre geschützt, der hier für ansonsten für massive Gefährdungen sorgen würde. Eine ausgeschilderte Umleitung führt über Hauptverkehrsstraßen. Alles gut könnte man meinen.
Leider nicht. Eine kleine aber lautstarke Gruppe, vor allem aus Wettbergen, sieht nicht ein, dass andere Menschen das Bedürfnis nach diesem Schutz haben und agitiert gegen die Sperren. „Freie Fahrt für freie Bürger” und „Uns doch egal” – so könnte man die Argumentation in etwa zusammenfassen. Und eine große Mehrheit der Abgeordneten im Bezirksrat geht dem Mummenschanz auf den Leim. Ein kurzfristig in die Sitzung am 2019-11-07 eingebrachter Antrag fordert die Aufhebung der Sperren, da es keine „Testphase” gegeben habe. Wohlbemerkt: Nachdem nicht mal ein Jahr vorher konstatiert wurde, dass Am Grünen Hagen „seit Langem als Schleichweg bzw. Querverbindung genutzt” wird und „als Fahrradstraße […] nicht für derartigen Verkehr ausgelegt ist”.
Ich hatte darüber hier im Blog ja schon ausführlich über die Situation und die Anwohnerdemonstration und die Bezirksratssitzung geschrieben. Aber was danach offensichtlich passiert ist, finde ich bemerkenswert und sehr bedenklich.
Eine zentrale Anlaufstelle der Sperrengegner ist die öffentliche Facebookgruppe „Wenn du aus Wettbergen kommst”. Dort startet Sven N., einer der Wortführer der Sperrengegner noch am Abend direkt nach der Bezirksratssitzung einen Berichtsthread. In Großbuchstaben darin eine „GANZ GROSSE BITTE”:
„[H]altet euch an die Geschwindigkeitsbegrenzung und nehmt Rücksicht aufeinander. Auf einer Fahrradstraße haben Fahrradfahrer besondere Rechte und es sollte im Interesse der Anwohner und uns allen unterbleiben zu pöbeln, hupen oder zu drängeln. […] Somit Respekt, Rücksicht und vielleicht einmal ein freundlicher Verzicht auf eine eventuelle Vorfahrt werden uns gemeinsam durch die Baustellenzeit kommen lassen […] – Sven N.
Damit hat Sven N. dann genau all die Sachen aufgezählt, derentwegen die Anwohner und Radfahrer sich so vehement für die Sperrung von Am Grünen Hagen einsetzen: Pöbeln, Hupen und Drängeln sind nämlich genau das, was dort an der Tagesordnung ist, wenn dem Autoverkehr „freie Fahrt” gegeben wird. Und umso mehr, wenn es mehr Autofahrer sind.
Und während man noch staunend vor diesem Posting sitzt, findet man etwas weiter unten zwischen den weitgehend ununterbrochenen „Danke”- und Jubel-Postings in den Kommentaren den CDU-Fraktionsvorsitzenden Erdem Winnicki, der auch zu – nunja – Vorsicht mahnt und ausdrücklich von der Nutzung von Am Grünen Hagen abrät:
Nehmt stattdessen die Umleitungsstrecke! Die ist stressfreier und zu den meisten Zeiten auch schneller. – Erdem Winnicki
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Schneller und stressfreier. Heißt anders herum: Ohne Sperren werden Autofahrer auf eine Strecke gelockt, die sowohl langsamer als auch stressiger ist – wobei die Langsamkeit den Stresspegel zusätzlich erhöht. Und was macht Stress beim Autofahren? Ein schon etwas älterer Artikel auf Spiegel Online zitiert Studien des Forschungsinstituts Psychomics in Köln und des Österreichischen Automobil‑, Motorrad- und Touring Clubs (ÖAMTC) in Wien:
19 Prozent reagieren weniger rücksichtsvoll [auf Stress am Steuer], sieben Prozent betreiben Stressbewältigung mit der Hupe, sechs Prozent werden verbal ausfällig, und drei Prozent recken sogar den Mittelfinger.
Pöbeln, Hupen, Drängeln – da sind sie wieder, die drei Standardreaktionen des Autofahrers auf Stress – Radfahrer kennen sie gut.
Ich habe Herrn Winnicki per E‑Mail gefragt, ob der Kommentar authentisch ist. Antwort: Ja. Auf meine Frage, ob denn die Sorgen der Anwohner und der Verwaltung bezüglich der Verkehrssicherheit nicht gerechtfertigt seien, antwortet Herr Winnicki:
Uns liegen bisher keine Informationen vor, die eine Gefährdungslage für den Radverkehr in der Fahrradstraße Grüner Hagen belegen oder auch nur nahelegen. Der Verwaltung auch nicht.
Mit Verlaub, das halte ich – vorsichtig formuliert – für nicht stichhaltig. Allein in der besagten Bezirksratssitzung gab es fünf Wortmeldungen, die eindringlich und mit Beispielen die vom Autoschleich- oder ‑durchgangsverkehr ausgehende Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer in Oberricklingen schilderten. Die 250 Teilnehmer der Anwohner- und Fahrraddemonstration im Vorfeld der Bezirksratssitzung konnten auch von jeder Menge unerfreulicher Vorkommnisse berichten, deshalb haben sie ja demonstriert. Es ist auch mehr als ungewöhnlich, dass uns beim ADFC in kürzester Zeit ein Dutzend Anfragen zu einer geplanten Maßnahme wie dem Abbau der Sperren in Oberricklingen erreicht.
Und dass die Verwaltung diese Sorgen auch hat, sieht man allein daran, dass sie diese Sperren eben eingerichtet hat. Verwaltung kann sowas.
Herr Winnicki, dass Ihnen „keine Informationen vorliegen” liegt in diesem Falle nicht daran, dass es solche Informationen nicht gibt, sondern an etwas anderem. Vielleicht daran, dass Sie sie nicht hören wollen?
Die Einlassungen der Sperrengegner zeigen mir, dass die mit den Sperren verhinderten Gefahren real sind: Anwohnern, Schulkinder und Radfahrer sind mit den Sperren signifikant sicherer. Die Probleme, die den Sperren angelastet werden, sind hingegen nicht existent: Die offizielle Umleitungsstrecke um Oberricklingen herum ist gefahrloser weil stressfreier und zudem meistens schneller. Sage nicht ich, sagt ein erklärter Gegner der Sperren.
Und das ist der Punkt, an dem wir nochmal auf die Rolle von Bezirksrat und Verwaltung zu sprechen kommen müssen: Im Bezirksrat gibt es immer noch bei vielen die Meinung, die Verwaltung müsse nach ihrer Pfeife tanzen. Das muss sie nicht! Der Bezirksrat hat formal einen Prüfantrag gestellt. Die Verwaltung kann dem Wunsch des Bezirksrats folgen – oder es lassen. Insbesondere, wenn es gute Argumente dagegen gibt.
Die Verwaltung hat im Oktober 2019 informell angekündigt, einem eventuellen Beschluss des Bezirksrats in Sachen „Am Grünen Hagen” folgen zu wollen. Mittlerweile hat es eine Demonstration und mehrere schriftliche Stellungnahmen von Betroffenen gegeben. Der Prüfantrag des Bezirksrats fordert – in der dunklen Jahreszeit – eine „Testphase”, bei der Radfahrer und Schulkinder zu Versuchskaninchen werden. Und das alles für eine Maßnahme, die Viele gefährdet und nur Wenigen einen gefühlten Vorteil verschafft, der zudem nicht mal real ist.
Ich halte die Verwaltung für gut beraten, ihre informelle Ankündigung nicht umzusetzen und den Prüfauftrag abschlägig zu bescheiden. Ein Abbau der Sperren wäre vor dem Hintergrund der Verkehrssicherheit nicht tragbar. Zudem stünde er in vollständigem Gegensatz zum erklärten Ziel der Stadt Hannover, den Radverkehr zu fördern. Außerdem wären Hunderte Anwohner, Schulkinder und Radfahrer sehr erfreut, dass ihre Bedenken gehört werden!
Es ist erstaunlich, das selbst ein Bezirksrat nicht in der Lage ist, die in der Bürgerstunde eingebrachten Meinungen zu berücksichtigen. (Und immerhin bedarf es deutlich mehr Engagement, seinen Hintern in eine Versammlung zu bewegen, als vom Sofa aus auf Facebook rumzupöbeln). Da wird dann trotzdem ein Beschluss gefasst, wie er vorher im Hinterzimmer ausgekungelt wurde. Völlig inkongruent zu dem, was vorher gesagt und diskutiert wurde.
Da sollten sich die Bezirksratsherren (und Damen) nicht wundern, wenn sie bei der nächsten Kommunalwahl nicht wiedergewählt werden.