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Heute gibt es den zweiten Beitrag meiner kleinen Blogserie „Interessante Verkehrsbauwerke”. Das heutige Bauwerk ist wesentlich unspektakulärer als die Brücke vom letzten Mal. Und es existiert heute auch nicht mehr. Die Geschichte dazu erzählt aber von einem spannenden hannoverschen Verkehrskapitel.
Anlässlich des anstehenden CeBIT-Beginns blenden wir zurück in das Jahr 1997. Da habe ich kurz vor Beginn der CeBIT einen Bahnsteig fotografiert.
Schon auf diesem Foto lässt sich erahnen, dass es sich hier um ein höchst provisorisches Bauwerk handelt: Er ist lediglich von Holzplanken umgrenzt, passt „gerade noch so” zwischen das Kurvenende im Vordergrund und den Hochbahnsteig im Hintergrund und liegt auch noch mitten in einem Weichenbereich. Der einzige Zugang schließlich ist der Notzugang zu besagtem Hochbahnsteig im Hintergrund rechts.
Wahrlich eine interessante Konstruktion. Und eine – wie ich finde – interessante Geschichte dahinter. Dieser Bahnsteig befand sich an der „Messeschleife” des Stadtbahnnetzes. Dies ist die südliche Endstation der Linie 8 und war bis zum Jahr 2000 die einzige Stadtbahnstation, die das Messegelände erschloss. Die Station dürfte die leistungsfähigste des gesamten Netzes sein, sowohl was Durchsatz als auch was die Möglichkeiten zum kurzfristigen Ein- und Aussetzen sowie Abstellen von Zügen betrifft. Schauen wir uns den – auch heute noch so vorhandenen – Gleisplan an:
An der Endstation gibt es drei Bahnsteige. Der wichtigste ist Bahnsteig B, weil er direkt gegenüber dem Eingang „Nord 1” des Messegeländes liegt. Zu Messezeiten wird er entweder zur Ankunft oder zur Abfahrt benutzt. So ergibt sich eine von der Hauptlastrichtung der Besucherströme abhängige Nutzung der Gesamtanlage:
- Im morgendlichen Anreiseverkehr fahren die Züge an Bahnsteig A durch und halten zum Aussteigen erst an Bahnsteig B. Eingestiegen wird dann an Bahnsteig C.
- Abends im Hauptabreiseverkehr ändert sich die Abfertigung: Jetzt ist Ausstieg am Bahnsteig A und eingestiegen wird an Bahnsteig B. Bahnsteig C bleibt ungenutzt.
Hauptzweck des getrennten Ein- und Aussteigens ist neben der Entzerrung der Fahrgastströme vor allem, dass angekommene Bahnen über die doppelten Gleisverbindungen vor und hinter Bahnsteig B einfach auf die Innenschleife und in den Abstellbereich gezogen werden bzw. von dort eingesetzt werden können. Mit einem gewissen Puffer an Zügen in den Ab- und Aufstellbereich in der Schleife lässt sich so sehr flexibel auf Besucherspitzen reagieren, Wagen können angekuppelt oder entfernt, Züge direkt ins Depot geschickt oder von eingesetzt werden.
Außerhalb der Messezeiten wird ebenfalls an Bahnsteig B angekommen und dann an C abgefahren, wobei die Züge direkt durchfahren.
Das erklärt aber noch kein Stück, was es mit dem Zusatzbahnsteig auf sich hat. Dazu müssen wir uns die Gesamtverkehrssituation zu Messezeiten anschauen: Bis in die 1990er Jahre war die Stadtbahnstrecke zur Messe der einzige leistungsfähige ÖPNV-Anschluss des Messegeländes. Entsprechend nahm sie einen Großteil des Verkehrs auf. Betrachten wir hierzu eine Streckengrafik.
Grundlage des Messeverkehrs ist die Stadtbahnlinie 8, die als Durchmesserlinie aus dem Norden Hannovers kommt und am Messegelände endet. Ab Hauptbahnhof wird sie durch Verstärkungszüge ergänzt, die die Linienbezeichnungen „18” oder „E” tragen. Mit diesen drei Linien wurde der Hauptteil des Verkehrs aus der Innenstadt bewältigt.
Da seinerzeit der Fernbahnhof Hannover Messe/Laatzen noch nicht existierte und es auch noch keine S‑Bahn gab, kam auch ein Großteil der Zugreisenden zur Messe am Hauptbahnhof an und musste dort in die Stadtbahn umsteigen. Infolgedessen waren die Züge gerade in der morgendlichen Hauptstoßzeit schon bei der Abfahrt am Hauptbahnhof so voll, dass am Kröpcke, spätestens aber am Aegidientorplatz, nicht mehr alle Wartenden zusteigen konnten. Deshalb gab es eine zweite Verstärkungslinie, die ebenfalls mit „E” bezeichnet wurde und die am Königsworther Platz einsetzte. Diese Bahnen hielten am Kröpcke und am Aegi auf anderen Gleisen als die Bahnen aus Richtung Hauptbahnhof und konnten so den Verkehr entzerren.
Trotzdem blieb die Lage beim morgendlichen Anreiseverkehr angespannt: Neben dem Messeverkehr gibt es auch die Stadtbahnlinien 1 und 2 auf der Strecke zwischen Hauptbahnhof und Bothmerstraße. Zudem wollen nicht alle Fahrgäste zur Messe: Die Strecke führt durch die dicht besiedelte Südstadt und hat eine wichtige Rolle im Schülerverkehr für eine ganze Reihe von Schulen rund um die Station Altenbekener Damm. Schließlich setzt das recht unflexible hannoversche Signalsystem enge Grenzen für die Streckenkapazität nördlich des Döhrener Turms.
Das führte zu einer ganzen Reihe durchaus einfallsreicher Betriebskonzepte für die Strecke. So hielten die „E”-Züge in einigen Jahren an keiner der Stationen zwischen Aegidientorplatz und Bothmerstraße, teilweise sogar bis Messegelände. Ein anderes Konzept war das „alternierende Halten”, das es so sonst wohl nur auf einige hochbelasteten Abschnitten der New Yorker U‑Bahn gibt: Zwischen Aegidientorplatz und Bothmerstraße hielten alle Züge zum Messegelände alternierend nur an jeder zweiten Station.
All dies änderte aber nichts daran, dass sämtliche Züge zur Messe morgens spätestens am Peiner Straße so proppenvoll waren, dass südlich davon das Zusteigen zum puren Glücksspiel wurde. Was ein Problem war, denn zum einen nahmen viele Aussteller und Besucher gern in Döhren oder Mittelfeld und damit messenah Quartier und zum anderen war (und ist) Bothmerstraße ein wichtiger Umsteigepunkt aus Richtung Laatzen und Rethen.
Deshalb gab es noch eine fünfte Linie zum Messegelände. Diese wurde vom Betriebshof Döhren an der Peiner Straße aus eingesetzt und fuhr dann lediglich die relativ kurze Reststrecke bis zum Messegelände. Damit wurde genau der kritischste südliche Abschnitt abgedeckt. Beschildert war auch diese Linie als „8” oder „E”, üstra-intern sprach man bei diesen Bahnen gern von den „U‑Booten”: Die Linie erreichte nicht den Tunnel in der Innenstadt, es gab auch keinen echten „Fahrplan”, stattdessen wurden die Züge sozusagen auf Zuruf zwischen den übrigen Kursen eingesetzt – wie U‑Boote halt.
Jetzt müssen wir auf ein anderes Detail der Situation der üstra im Jahr 1997 schauen: Den Fuhrpark. Seinerzeit wurden alle Stadtbahnlinien ausschließlich mit den grünen Bahnen der Baureihe TW6000 betrieben. 260 Fahrzeuge gab es, die letzte Serie von 10 Wagen war erst 1993 ausgeliefert worden. Trotzdem war es knapp: Der CeBIT-Verkehr benötigte so viele Fahrzeuge, dass eigentlich alle 260 Triebwagen gebraucht wurden. Leider standen diese nicht zur Verfügung: Durch mehrere Unfälle Ende 1996 und Anfang 1997 waren insgesamt vier Fahrzeuge schadhaft abgestellt. Und damit wurde es eng: Ich erinnere mich, dass ich am ersten Messetag am Bahnsteig meiner Hausstation „Sedanstraße” stand und mitten im morgendlichen Berufsverkehr mein Zug der Linie 3 als (völlig überfüllter) Einzelwagen fuhr. Dieses Schicksal teilten auch andere Linien – nicht wirklich zur Freude der Fahrgäste. Bei diesem knappen Fuhrpark war die Devise klar: Es mussten so viele TW6000 wie möglich eingespart werden.
Und da boten genau die beschriebenen U‑Bootverkehre eine Möglichkeit: Im September 1996 war die letzte „echte” Straßenbahnlinie in Hannover eingestellt worden: Die 16 fuhr vom Klagesmarkt über Steintor, Ernst-August-Platz, Königstraße und Zoo zum Nackenberg. Seit Inbetriebnahme der U‑Bahn unter dem Engelbosteler Damm 1993 wurde diese Linie wieder durchgängig mit den letzten „alten” Straßenbahnwagen der Baureihe TW500, den sogenannten „Gelenktriebwagen” befahren. Nach der Einstellung der Linie wurden drei Wagen zunächst betriebsfähig gehalten, um nämlich genau mit diesen besagten U‑Bootverkehr während der CeBIT durchzuführen.
Anders als die Stadtbahnwagen, die mit ihren Klapptrittstufen sowohl an Hoch- als auch an Niedrigbahnsteigen halten können, sind die alten Straßenbahnwagen mit ihren fest eingebauten Trittstufen auf niedrige Bahnsteige angewiesen. Diese gab es 1997 noch an allen für den U‑Bootverkehr relevanten Haltestellen – mit einer Ausnahme: Messegelände. Dort war als letzter der Bahnsteig A im Sommer 1996 als Hochbahnsteig umgebaut worden.
Und damit fügt die Geschichte sich endlich zusammen: Um mit den wegen des TW6000-Mangels als U‑Boote eingesetzten alten TW500-Straßenbahnwagen am Messegelände halten zu können, bedurfte es dort eines provisorischen niedrigen Bahnsteigs. Und genau den baute man kurz vor der CeBIT direkt südlich des Bahnsteigs B.
Damit endet Teil 1 dieser Geschichte rund um den CeBIT-Verkehr vergangener Tage. Teil 2 folgt.
Klasse, Dirk! Wirklich interessant, auch wenn man vor der Lektüre nicht von sich behauptet hätte, sich dafür zu interessieren. Und schön geschrieben im Übrigen auch.
Hallo, ich muss sagen, das mir die Geschichte auch außerordentlich gut gefällt. Infrastruktur ist alles!
Gruß Simon
Interessante Geschichte, die spitzenmäßig recherchiert wurde! Ich freu mich auf weitere Geschichten aus Hannover.