Das Bundesverfassungsgericht hat heute in Sachen Vorratsdatenspeicherung geurteilt. Dabei wurden die diesbezüglichen Bundesgesetze für unvereinbar mit den Grundrechten und für nichtig erklärt. Gleichzeitig wurden hohe Anforderungen an eine eventuelle Neufassung entsprechender gesetzlicher Regelungen zur anlasslosen Kommunikationsdatenerfassung gestellt.
Ich halte dieses Urteil für gut und freue mich darüber:
- Die Gesetze wurden klar und deutlich als „verfassungswidrig” bezeichnet.
- Diese Verfassungswidrigkeit wurde so weit gehend festgestellt, dass das Gesetz nicht nur ausgesetzt oder eingeschränkt, sondern insgesamt für „nichtig” erklärt wurde.
- Das Gericht spricht in seiner Begründung klipp und klar davon, dass die Verhältnismäßigkeit bei der Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung gröblichst missachtet wurde
Gerade zu letztem Punkt sind die Aussagen deutlich:
- Es handelt sich „um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt.”
- Auskünfte dürfen nicht „ins Blaue hinein” eingeholt werden.
- „Die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten [ist] geeignet, ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann.”
In den aktuellen Kommentaren zum Urteil findet sich an vielen Stellen eine gewisse Unzufriedenheit. Von „Pyrrhussieg” ist die Rede, davon, dass das Gericht sich nicht mit der Europäischen Union anlegen wollte oder schlicht davon, dass das Urteil letztlich nur eine Anleitung für eine „bessere” Vorratsdatenspeicherung sei.
Ich kann diese Überlegungen nachvollziehen, aber ich stimme ihnen nicht zu. Das Urteil des Verfassungsgerichts ist letztlich das, was es ist: Ein Urteil des Verfassungsgerichts. Es ging um ein Gesetz, das Gericht hat dieses Gesetz beurteilt und das Gesetz wurde vom Gericht für verfassungswidrig und für nichtig befunden. Das ist das Maximum dessen, was man erwarten konnte.
Die Erwartung, das Gericht würde von sich aus anlasslose Datenspeicherungen jeglicher Art per se für grundgesetzwidrig erklären, halte ich für falsch. Zudem wäre die Institution „Verfassungsgericht” der falsche Adressat. Schaut man sich – nur mal als Beispiel – das Volkszählungsurteil von 1983 an, so findet man im Urteilstext dort eine sehr lange Abwägung bezüglich des Gesetzes und der damit einhergehenden Grundrechte. In Absatz 156 findet sich dort zum Beispiel folgendes, was man angesichts der häufigen Glorifizierung dieser Entscheidung vielleicht nicht unbedingt erwarten würde:
Dieses Recht auf „informationelle Selbstbestimmung” ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne hat nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über „seine” Daten; er ist vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Information, auch soweit sie personenbezogen ist, stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. […] Grundsätzlich muß daher der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen.
In besagtem, häufig zitierten Volkszählungsurteil werden Volkszählungen zudem nicht in Bausch und Bogen für unzulässig erklärt. Und es hat vier Jahre später eine Volkszählung gegeben. Das Verfassungsgericht ist letztlich keine ethische Instanz, sondern eine juristische. Es prüft Gesetze. Vor allem aber ist es kein Ersatz-Gesetzgeber, sondern ein Mitglied der Judikative, um mal in den Begrifflichkeiten der Gewaltenteilung zu sprechen.
Gesetze werden in der Legislative gemacht. Und für die ist das heutige Urteil eine Steilvorlage: Das Verfassungsgericht hat umfänglichst beschrieben, welchen Anforderungen eine Verbindungsdatenspeicherung genügen muss, damit sie vom Gericht noch als mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen werden kann. Es liegt nun an den gesetzgeberischen Kräften, diese Ausführungen aufzunehmen und anzuwenden.
Hier kommt nun die Piratenpartei ins Spiel. Es ist unsere Aufgabe, auf diesen Gesetzgebungsprozess Einfluss zu nehmen. Wir müssen darauf hinwirken, dass es in Zukunft rechtsstaatliche Regelungen gibt. Es liegt an uns, einen Diskussionsprozess anzustoßen, an dessen Ende die Erkenntnis stehen möge, dass Vorratsdatenspeicherungen generell eine schlechte Idee sind und man sich stattdessen nach etwas anderem umsehen möge – Quick Freeze zum Beispiel. Wir sind ein Teil einer ganzen zivilgesellschaftlichen Bewegung – und für die muss es jetzt heißen: Weiter arbeiten!
Die ersten Ansätze dazu sind längst erkennbar: Mit dem deutschen Gerichtsurteil steht das Thema auch wieder auf der europäischen Agenda – umso mehr, als dass Schweden letztens erst eine Umsetzung der europäischen Richtlinie rundheraus abgelehnt hat. Meines Erachtens sind die Kräfte mittlerweile deutlich anders verteilt als im Zeitraum 2004 bis 2006, als die Richtlinie beschlossen und umgesetzt wurde:
- Die Problematik ist mittlerweile viel weiter in der Bevölkerung angekommen, auch und gerade durch andere Gesetze und Vorhaben wie die elektronische Gesundheitskarte, ELENA oder die unsäglichen Zensursulagesetze.
- Die politischen Führungen sind auch anders zusammengesetzt als damals, so regiert in Deutschland heute schwarz-gelb anstatt der großen Koalition.
- Auch die politischen Strukturen sind andere, der mittlerweile in Kraft getretene EU-Vertrag von Lissabon gibt dem Europäischen Parlament neue Kompetenzen und Bestimmungsmöglichkeiten.
- Und schließlich dürfte auch die Bewegung der Piratenparteien nicht ganz unschuldig an den geänderten Verhältnissen sein: Im EU-Parlament sitzen bereits zwei Vertreter und – zum Beispiel – in Deutschland sehe ich auch ein weiter wachsendes Interesse und Zustimmung zu uns als politischer Kraft.
Vor diesem Hintergrund steht jetzt eine neue gesellschaftliche Diskussionsrunde an: Brauchen wir eine Vorratsdatenspeicherung? Wollen wir eine Vorratsdatenspeicherung? Können wir uns die Vorratsspeicherung gesellschaftlichen leisten? Hier bedarf es klarer Argumente und einer deutlich vernehmbaren Stimme. Mit dem heutigen Urteil des Verfassungsgerichts im Rücken war es meines Erachtens noch nie so einfach, die Vorratsdatenspeicherung in Gänze vom Tisch zu fegen. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, uns schmollend ins stille Kämmerlein zurückziehen – oder uns in abseitigen Grabenkämpfen zu verzetteln.
” In besagtem, häufig zitierten Volkszählungsurteil werden Volkszählungen zudem nicht in Bausch und Bogen für unzulässig” – was meinst du damit?
Im Prinzip Zustimmung, aber es ist durchaus unser Recht ein Bundesverfassungsurteil zu kritisieren, weil es nicht unseren Ansprüchen genügt. Klar ist der Gesetzgeber in der Pflicht und damit auch wir.… aber mein Vertrauen in Karlsruhe ist deutlich höher als das in die aktuellen Gesetzgeber. Ein derartiges Urteil trifft mich daher schon, auch weil der Gesetzgeber dazu neigt, Gestaltungsspielräume voll auszunutzen.
In einer theoretisch wohl funktionierenden Demokratie würde jetzt der Prozess einsetzen, den du beschrieben hast. Hoffen wir das Beste …