Das Ende der Welt da! Auf jeden Fall ist es nah! Also, wenn man dem Artikel der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) von heute mittag glaubt. Redakteur Ulrich Bock findet dort unter einem Bild mit vielen herabgefallenen Ästen dramatische Worte:
Böen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 100 km/h: Auf Niedersachsen kommt am Mittwoch, 5. Juli, ein schwerer Sommersturm zu. […]
Für Mittwoch, 5. Juli, kündigt Meteorologe Dominik Jung für den Nordwesten und Norden Deutschlands einen schweren Sommersturm an. „Die Sturmböen können mehr als 80 oder 90 km/h betragen“, sagt der Geschäftsführer von Wetterdienst […].
Für die Region Hannover prognostiziert wetteronline.de vom Mittag bis zum Abend bei 19 Grad Celsius Böen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 80 km/h. […]
Was zunächst nicht sonderlich dramatisch klinge, könne allerdings schon reichen, um für ein Verkehrschaos zu sorgen. Das dichte Laubkleid der Bäume biete einen „perfekten Angriffspunkt für die Sturmböen. Äste und Bäume können dabei abbrechen und für Behinderungen auf der Straße aber auch bei der Bahn sorgen“, warnt Wetterexperte Jung. Er rät, die Wetter- und Unwetterwarnungen am Mittwoch gut im Blick behalten.
Potzblitz! Ein schwerer Sommersturm! Wind bis 100 km/h (Überschrift)! Also, 80 – 90 km/h (Erster Absatz)! Also, 80 km/h (Zweiter Absatz)! Auf jeden Fall: Chaos! Also, Verkehrschaos. Wegen herabfallender Äste. Weil die Bäume voller Laub hängen.
Wenn ich derart alarmistisch aufgeladene Schlagzeilen lese, schaue ich mal nach, was denn anderswo steht. Google Wetter: Maximale Windgeschwindigkeit: 39 km/h (mäßige Brise). wetter.com sagt immerhin etwas von Böen bis 67 km/h – bei einer allgemeinen Windgeschwindigkeit von 24 km/h(!). Lediglich in der vertieften Analyse auf kachelmannwetter.com finden sich für den späten Nachmittag tatsächlich Prognosen von Windböen bis 89 km/h – allerdings nur bei den beiden ECMWF-Modellen. Der Vorhersageschnitt für alle sechzehn(!) zitierten Modelle liegt auch hier eher so bei 60 km/h. Wohlbemerkt: Für die Böen.
Ich muss gestehen, dass solche Artikel anfangen, mich zu nerven. Es könnte sein, dass es morgen Mittag für einige Stunden etwas stürmisch wird. Ok. Aber schon die Bezeichnung „schwerer Sommersturm” ist mit den bisherigen Vorhersagen nicht zu rechtfertigen. Und die Tatsache, dass die Windgeschwindigkeiten im Artikel von Absatz zu Absatz abnehmen, macht die Sache nicht besser. Es drängt sich der Verdacht auf, dass da ein geschäftsführender Meteorologe mal in die Zeitung wollte und die HAZ noch ein bisschen weiße Fläche auf ihrer Webseite füllen musste. Wurscht, dass die ganze Vorhersage noch im Verlauf des Artikels in sich zusammenfällt – Hauptsache ein knackiges „100 km/h” in der Überschrift.
In dem Tonfall geht es dann weiter. Am Wochenende sollen es 31°C werden – sagt mein Google Wetter. Meteorologe Jung drückt das so aus:
„Erst ein schwerer Sommersturm, dann große Hitze – das Extremwetter dauert an“, sagt Jung. Ab Dienstag deute sich eine Abkühlung an. Diese gehe indes mit schweren Gewittern einher.
So kann man das auch machen: Zwei sommerliche – gar nicht mal besonders heiße – Tage umrahmt von sommerlichen Unwettern: Extremwetter! Fette Schlagzeilen, viele Klicks und jede Menge Menschen, die das für „nicht mehr normal” halten. Dabei ist das einfach nur – Sommer! Es wäre schön, wenn die Berichterstattung nicht ständig in grellsten Farben Katastrophen an die Wand malte, die gar nicht stattfinden.
Dieser Tage ist viel von „gesellschaftlicher Polarisierung” die Rede. Das Problem ist: Artikel wie dieser leisten solcher Polarisierung erheblichen Vorschub. Wer den Schrieb für bare Münze nimmt, sieht den Weltuntergang wieder ein Stück näher kommen. Wer – wie ich hier – einen zweiten Blick riskiert, glaubt da nicht sofort dran. Eine journalistische Einordnung könnte helfen. Aber genau davon bietet Journalismus wie in dem von mir zitierten Artikel – nichts. Das ist schade und für den gesellschaftlichen Frieden zumindest mal nicht hilfreich.
Übrigens will ich in keiner Weise in Abrede stellen, dass es nicht auch schwere Unwetter geben kann. Am 2017-10-06 hatten wir einen Mittagssturm, nach dem die Eilenriede wochenlang nur mit Einschränkungen passierbar war – so viele Bäume waren umgestürzt. Das ist dann wirklich ein „schwerer Sturm”.
Aber nicht, wenn drei Äste abknicken könnten…
Nachtrag, 2023-07-05, 17:40 Uhr: Wie (von mir) erwartet ist ab-so-lut NICHTS in Hannover passiert.