Ich bin Jahrgang 1972. Damit gehöre ich zu einem der letzten Jahrgänge, die noch verpflichtend gegen Pocken geimpft wurden. Die Narbe davon habe ich bis heute am Oberschenkel. Und diese Impfung war insgesamt nicht ohne. Mehrfach wurde mir berichtet, dass ich mehrere Tage lang heftige Impfnebenwirkungen gehabt haben soll – selbst erinnern kann ich mich nicht daran.
Damals haben alle Menschen diese Impfung bekommen. Sie war wie gesagt verpflichtend. In meinem Impfausweis, den ich anlässlich der Corona-Schutzimpfung wieder rausgeholt habe, gibt es nicht nur zwei unabhängige Bereiche, in denen sie eingetragen wurde. Es gibt auch eine weitere Seite, auf der eventuelle Zurückstellungen von dieser Impfung vermerkt worden wären.
Pocken waren eine ausgesprochen fiese Krankheit. Und dass ich hier heute „waren” schreiben kann (und nicht „sind” schreiben muss), liegt maßgeblich daran, dass ihre Verbreitung durch die verpflichtenden Impfungen vollständig unterbunden werden konnte. Die Pocken wurden „ausgerottet”, heißt es häufig.
Nun gibt es die Schutzimpfungen gegen Covid-19. Sie verringern das Risiko von Übertragung, Ansteckung und schweren Verläufen signifikant. Verschiedene Experten sagen übereinstimmend: „Nur die Impfung schützt den Einzelnen und die Gesellschaft nachhaltig gegen ‚Corona’ ”. Ohne ein zügiges Durchimpfen der Bevölkerung werden mehr oder weniger apokalyptische Szenarien für Herbst und Winter vorhergesagt. Gleichzeitig heißt es immer wieder, eine Impfpflicht komme nicht in Frage, man wolle die Menschen „auf anderem Weg überzeugen”.
Warum? Es gibt eine Krankheit mit bekanntem Infektionsweg. Es gibt nur die Impfung als Weg, diese Krankheit allgemein zu stoppen oder zumindest weit gehend zurückzudrängen. Seit Beginn der „Pandemie” werden Staatsvertreter nicht müde, einschneidenste Grundrechtseinschränkungen mit der Notwendigkeit des Gesundheitsschutzes für alle Bürger zu begründen. Aber ausgerechnet die medizinisch wirksamste und gleichzeitig grundrechtlich kaum einschränkende Maßnahme wird nicht mit aller Entschiedenheit vorangetrieben.
Logisch hieße dies, dass die Argumentationskette oben nicht stimmt. Also eine der Voraussetzungen oder Schlussfolgerungen falsch ist. Also beispielsweise, dass Covid-19 nicht so gefährlich ist wie behauptet. Oder die Impfungen nicht so wirksam. Oder eine langsamere Impfkampagne sich nicht so negativ auswirkt. Oder die Gesundheit der Bürger doch nicht so wichtig ist. Aber bei einer geringeren Gefährlichkeit müssten beispielsweise auch alle anderen momentanen Grundrechtseinschränkungen umgehend aufgehoben werden.
Die beunruhigendste Erklärung wäre, dass die medizinisch-virologischen Überlegungen doch alle richtig sind – und die Folgen eines zu langsam aufgebauten bevölkerungsweiten Impfschutzes durch anhaltende und weiter gehende Grundrechtseinschränkungen aufgefangen werden sollen. Wenn das momentane Larifari so weitergeht steht genau das zu befürchten. Menschen wird wieder das Zusammenkommen verboten. Die Wahl des Arbeitsplatzes wird eingeschränkt. Zum Einkaufen, Ausgehen oder bei der Benutzung von Verkehrsmitteln (und wer weiß wo noch) muss man sich weiter – und womöglich auf unabsehbare Zeit – zwangsweise selbst ersticken. Die Gewöhnung an daran, dass Bürger- und Freiheitsrechte keine Grundrechte mehr sind, sondern als „Privilegien auf Widerruf” gehandhabt werden, schreitet voran. Und das alles, weil die vorhandenen Möglichkeiten zum Umgang mit dem Virus und der Gesamtsituation ausgerechnet hier nicht angewendet werden.
Dieses Szenario wäre eine Kapitulation des Bürgerrechtsstaates und der Einstieg in eine staatliche Willkür – der dann auch irgendwann ihre demokratische Legitimation abhanden käme. Angesichts dieser Aussichten halte ich eine umgehend eingeführte und konsequent durchgesetzte Impfpflicht für das Mittel der Wahl. Wenn ich die Aussagen in der aktuellen öffentlichen Diskussion ernst nehme, ist sie die mit Abstand beste Möglichkeit, unter geringstmöglichen Auswirkungen auf die Grundrechte den bestmöglichen Schutz aller Menschen zu erreichen. Und genau das sollte das Ziel staatlichen und gesellschaftlichen Handelns sein. Zudem sind verpflichtende Impfungen weder gesellschaftliches noch juristisches Neuland, sondern geübte Praxis.
Und das bringt mich zum Start des Artikels zurück: Meine Generation hat die kurzzeitige Belastung einer verpflichtenden Pockenimpfung auf sich genommen. Langfristig hat sie sich damit selbst von einer hochansteckenden und schwer beherrschbaren Krankheit befreit – und alle nach ihr Geborenen gleich mit. Ich sehe keinen Grund, warum wir als Gesellschaft bei Covid-19 nicht genauso handeln sollten. Zumal die Nebenwirkungen einer Covid-19-Impfung deutlich geringer sind.