Am Freitag (2020 – 01-24) war ich auf einer interessanten Veranstaltung: Das Bürgerbüro Stadtentwicklung hatte eingeladen unter dem Motto „Zukunft Stadt – Wie bewegen wir uns morgen?” Das Thema Verkehrswende ist ja momentan durchaus präsent in der öffentlichen Diskussion; vor dem Hintergrund von Klimakrise und dem Vorhaben des neuen Oberbürgermeisters, Hannovers Innenstadt bis 2030 autofrei umzugestalten, wird sich so schnell da auch nichts dran ändern.
Eigentlich hatte ich vor, zu der Veranstaltung zu gehen, mitzuschreiben und Fotos zu machen und dann diesen Blogartikel zu verfassen. Dann kam es aber anders: Eine Panelteilnehmerin musste krankheitsbedingt absagen und so kam es, dass ich etwa 60 Minuten vor Veranstaltungsbeginn gefragt wurde, ob ich als Vertreter des ADFC kurzfristig einspringen kann. So fand ich mich plötzlich nicht als Besucher, sondern als Referent wieder, der explizit die Rolle des Radverkehrs darstellen konnte – und wollte! Die Stichpunkte für meinen Impulsvortrag habe ich dann in acht Minuten aufgeschrieben.
Zum Einstieg: Diskussion im Publikum
Dass der Radverkehr tatsächlich ein wichtiger Baustein ist, wurde mir schon im ersten Teil der Veranstaltung klar. Die BBS-Veranstaltungen zeichnen sich oft durch eine weit gehende Publikumsbeteiligung aus. So auch hier: Noch bevor es zu den Impulsvorträgen kam, sammelte das Publikum erstmal in acht- bis zehnköpfigen Diskussionszirkeln, wo es selbst die Knackpunkte für die Mobilität der Zukunft sieht. In „meiner” Gruppe hatte der Moderator auf Grund der Statements der „ersten Runde” die Themen „Einbindung der Region” und „Organisation des innerstädtischen Parkraums” als wichtigste Themen ausgemacht. In der Diskussion darüber landeten dann aber alle Gruppenmitglieder wieder und wieder beim Radverkehr: Mehr Platz fürs Rad führt zu weniger Konflikten mit dem Fußverkehr, es braucht viel mehr Abstellmöglichkeiten, insgesamt muss die Verkehrsführung neu überdacht werden – das waren die zentralen Punkte dieser Diskussion.
Erst nach dieser ersten Runde kamen dann die Impulsvorträge der eingeladenen Referenten. Und die waren durchaus spannend, setzten teilweise aber erwartbare Schwerpunkte.
Die VW-Zukunftsforschung: Wolfgang Müller Pietralla
Vor allem beim ersten Referenten fand ich das deutlich. _Wolfgang Müller Pietralla_ ist Leiter der Zukunftsforschung von VW. VW verkauft Autos. Und selbst, wenn man dieser Zukunftsforschung mal einen über den primären Geschäftszweck von VW hinaus gehenden Ansatz unterstellt, bleibt es am Ende des Tages doch ein Teil eines Konzerns, für den „Mobilität” und „Kfz-Mobilität” einen – nunja – sehr hohen Deckungsgrad haben…
Entsprechend drehten sich die – durchaus interessanten – Zukunftideen, die Müller Pietralla vorstellte, vornehmlich darum, wie sich Autos verändern werden. VW hat E‑Mobilität zur Schlüsseltechnologie erklärt und insofern forscht auch die Zukunftsforschung in diese Richtung. Dazu gehören für die VW-Zukunftsforschung dann auch Laderoboter, die wie weiland Wall·E mit treuem Blick durch die Parkhäuser huschen und abgestellte E‑Mobile aufladen.
Mobilität als Service ist für Müller Pietralla eine Entwicklung, die sich durch die jetzt groß werdende „Generation Nachhaltigkeit” zwangläufig ergibt. Gesellschaft und öffentlicher Raum werden sich ändern müssen – aber sofort hatte er auch Beispiele aus Zürich und Abu Dhabi an der Hand, bei denen autofrei geplanter öffentlicher Raum gesellschaftlich nicht durchsetzbar gewesen sei. Er hat dann noch Untersuchungen zitiert, nach denen in Berlin bis 2030 keine Veränderung in der Verteilung der Verkehrsmittel (dem sogenannten „Modal Split”) zu erwarten sei und dass in Tokio die Mehrheit der Menschen sogar weniger ÖPNV nutzen wolle – was angesichts der dortigen Überfüllung aber auch kein Wunder ist. Ein Schelm, wer bei diesen Beispielen Böses denkt. Leider hat Müller Pietralla keine Kopien seiner Präsentation zugelassen und im Internet waren seine Zahlen auch nicht zu finden. So muss das eine oder andere einstweilen ungeprüft bleiben.
Mein Fazit: Gut zu wissen, wie große Automobilkonzerne so ticken. Aber: Das war weder visionär noch hilfreich für Hannover.
Der ADAC Niedersachsen/Sachsen-Anhalt: Christine Rettig
Dasselbe Fazit muss ich auch für die zweite Referentin, Christine Rettig, ziehen. Frau Rettig ist die Leiterin Öffentlichkeitsarbeit und Clubdienste im ADAC Niedersachsen/Sachsen-Anhalt. Ich habe Frau Rettig schon mehrfach bei verschiedenen Veranstaltungen erlebt und sehe immer wieder das gleiche Muster. Sie unterstellt zunächst eine „emotionale und aufgeheizte” Diskussion, findet das nicht hilfreich, behauptet dann aber keine drei Minuten später selbst, Autofahrer würde als „Hassgegner” gesehen – „gerade in Hannover”. Das ist so ein bisschen wie wenn Bild sich über Gaffer beschwert und gleichzeitig zur Einsendung von Handyvideos auffordert.
Und dann kommt immer die Behauptung, „alle” müssten sich daran beteiligen, wenn sich an den Verhältnissen etwas ändern solle, jeder muss sich „selbst an die Nase fassen”. Bevor sich aber überhaupt irgendetwas ändert, brauche man ein „Gesamtkonzept”. Das hält Frau Rettig allerdings keinesfalls davon ab, am – durchaus als Gesamtkonzept zu verstehenden – Projekt „autofreie Innenstadt” zu kritisieren, dass es nicht konkret genug sei. Abgerundet wird das Statement mit hingeworfenen Behauptungen, „Amsterdam und Kopenhagen” seien zwar gut, aber „es geht um die Realität hier” – was auch immer das heißen soll. Und natürlich darf auch das arme Schulkind nicht fehlen, das ja irgendwie zu seiner „5 Kilometer entfernten” Schule muss…
Insgesamt hat dieser Wortbeitrag so gar keinen Impuls dafür geliefert, wie wir uns morgen bewegen – außer „so wie immer”. Nachdem sogar im ADAC auf Bundesebene seit neustem die Betonkopffraktion auf dem Rückzug zu sein scheint, müsste eigentlich auch beim ADAC Niedersachsen/Sachsen-Anhalt so langsam mal die Frage auf die Tagesordnung, ob man auf diese Weise von außen wahrgenommen werden will. Auch unter den vielen Mitgliedern werden etliche sein, die für ihr Geld mehr sehen wollen als Verkehrkonzepte von 1965…
Institut für Zukunftsstudien: Ingo Kollosche
Der dritte Referent, Ingo Kollosche, Forschungsleiter Mobilität im Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, brachte dann erfreulich neue Aspekte in die Diskussion. Man müsse eben auch die soziale Komponente von Mobilität berücksichtigen. Da ist zunächst mal die Diskrepanz zwischen der gesellschaftlich diskutierten Verkehrswende weg vom Auto und den regelmäßig steigenden Kfz-Zulassungszahlen. Ansonsten wird über Verkehr in der Hauptsache technisch (E‑Mobilität) oder ökonomisch (Arbeitsplätze in der Autoindustrie) diskutiert, aber eben nicht sozial.
Und da liegt einiges im Argen: Die entstehende Mobilitäts-Service-Ökonomie ist weitestgehend privatwirtschaftlich strukturiert. Mobilität gehört aber zur Daseinsvorsorge und wurde bislang auf kommunaler Ebene durch den öffentlichen Bus- und Bahnverkehr gewährleistet. E‑Roller oder Fahrtdienste wie Moia nehmen dem ÖPNV Marktanteile weg, ohne dass sie auf dieselbe Weise „sozial inklusiv” sind – sie sind zu teuer oder werden in dünn besiedelten Gebieten schlicht nicht angeboten.
Kollosches Beispiel aus Helsinki zeigte, wohin die problematische Reise gehen könnte: VIM, der dortige Anbieter von „Mobility as a Service” verknüpft zwar viele Verkehrsdienstleister, eignet sich aber beispielsweise für Pendler vom Stadtrand nicht. Zudem sind die Tarife entweder kompliziert oder – als Flatrate – mit 500 EUR/Monat exorbitant teuer.
Und Berlkönig – ein ähnliches Projekt in Berlin – ist zwar in öffentlicher Hand und hat ein größeres Bediengebiet. Im Hintergrund ist es aber ebenso eine Plattformökonomie, bei der letztlich die Einnahmen für die Kommune deutlich geringer sind als bei „klassischem” steuerfinanzierten ÖPNV.
Einen Seitenhieb auf europäische Ansprüche auf die Technologieführerschaft konnte Kollosche sich nicht verkneifen: China ist heute schon weiter und schneller. Und auch bei ihm Thema: Die mit der digitalen Infrastruktur groß gewordenen Generationen sind viel mehr an das Zahlen pro Nutzung und an flexible Sharing-Angebote gewöhnt als die früheren Generationen. Trotzdem wird das Auto noch eine Weile ein sehr wichtiger Verkehrsträger bleiben – ist es doch die treibende Kraft hinter der heutigen sehr individualistisch geprägten gesellschaftlichen Realität.
Die Überlegungen Kollosches waren für mich das Highlight des Abends. Das waren tatsächlich mal Überlegungen, die über den Tellerrand der immer gleichen verkehrstechnischen Diskussionen zum Thema „Verkehrswende” hinausreichten.
Der ADFC Hannover: Dirk Hillbrecht
Ich habe in meinem eigenen Impulsvortrag darauf Bezug genommen. In der Tat ist das Fahrrad aus sich selbst heraus ein sozial sehr inklusives Verkehrsmittel: Menschen jeden Alters können sich damit individuell auf einem Großteil der Strecken ihres täglichen Mobilitätsbedarfs fortbewegen – ohne Vorbedingungen.
Darauf aufbauend habe ich mich inhaltlich klar positioniert: Ich halte das Fahrrad für das Schlüssel-Verkehrsmittel zur Verkehrswende, insbesondere in den Städten. Es braucht wenig Platz, wenig Resourcen und ist sehr flexibel. Zudem hat es Potential: Eine Studie des Portland Bureau of Transportation sieht 60% der Bevölkerung (von Portland, aber das Ergebnis ist übertragbar) als „interessiert, aber besorgt”. Diese Menschen würden Rad fahren, trauen sich aber nicht – aus Sicherheitsbedenken. Dem muss man durch bessere Infrastruktur abhelfen und für die braucht es Resourcen – vor allem Platz.
Diesen Platz wieder, so der letzte Schritt meines Einstiegsplädoyers, muss vom Autoverkehr kommen, der hier seit Jahrzehnten übermäßig viel Resourcen für sich beansprucht. Das ist genau das Gegenteil der „Alle müssen ihren Teil beitragen”-Forderung von Frau Rettig vom ADAC – und das ist mir auch wichtig.
Die Fishbowl-Diskussion
Nachdem die vier Impulsreferate durch waren, haben sich im Publikum wieder die Diskussionsgruppen zusammengefunden: „Erarbeitet Fragen, die ihr den Referenten stellen wollt”, war die Aufforderung von Oliver Kuklinski und Rebekka Jakob, die souverän durch den Abend führten.
Die Diskussion um diese Fragen lief dann in einem leicht angepassten „Fishbowl”-Diskussionsformat ab: Einer der Stühle auf der Bühne war leer und wurde immer von einem der Diskussionskreis-Sprecher aus dem Publikum besetzt, die ihren Redebeitrag von dort hielten.
Eine wichtige aufgeworfene Frage war hier, wie eine geänderte Mobilität zur Einhaltung der Pariser Klimaziele beitragen könne. „Allein gar nicht”, konstatierte Ingo Kollosche, es brauche vielmehr einen komplett geänderten Lebensstil und „richtig radikale Einschnitte”. Etwas dystropisch fügte er an, in Diskussionen mit seinen Studenten würde er immer wieder in einem „Ökodiktaturszenario” landen.
Dem wollte ich mich ausdrücklich nicht anschließen. Politik muss halt gestalten und mutig vorangehen. Dazu brauche es Rückhalt aus der Gesellschaft. Gerade die positiven Beispiele aus Zürich, Kopenhagen oder den Niederlanden kommen ja aus Gesellschaften, die definitiv nicht autoritär aufgestellt sind. Es geht also!
Auf die Frage, wie man wohl Menschen dazu brächte, Alternativen zu ihrer momentanen Mobilität in Erwägung zu ziehen, wusste Kollosche den Vorschlag: Veränderungen einfach mal ein halbes Jahr ausprobieren! Es gibt diverse Beispiele von Fällen, bei denen Anlieger, Händler oder Lieferanten lautstark befürchteten, dass eine Straßensperrung in Chaos führte – nur um sie nach einem halben Jahr um keinen Preis mehr hergeben zu wollen. Es braucht einerseits Zeit und andererseits gute Planung, dann lassen sich Alternativen zur heutigen Aufteilung des öffentlichen Raumes einrichten und erhalten.
Einen kleinen Schwerpunkt bildete das Thema „Parken”. In Hannover ist die Einführung von flächendeckendem Anwohnerparken in den „Gründerzeitvierteln” geplant. Abwiegeln seitens der „autonahen” Vertreter: Die Einrichtung von zentralen Parkräumen in Wohnvierteln sieht Müller Pietralla kritisch: „Die Menschen laufen im Durchschnitt nicht mehr als 300 Meter” zum Parkplatz, ansonsten wird „kreativ” geparkt. – Ein paar mal Abschleppen und entsprechende Kosten dürften, so meine Überlegung dazu, diesen Radius deutlich erhöhen…
Ebenso bemerkenswert Frau Rettig: Leere Flächen müssten „anders” genutzt und für den ruhenden Verkehr zugänglich gemacht werden. Das läuft dann, so mein Eindruck, darauf hinaus, dass es statt einer Platzneuverteilung zu Lasten des Kfz-Verkehrs am Ende mehr Parkraum gäbe. Und das kann es ja irgendwie nicht sein.
Fazit
Es war eine muntere Diskussion, die abgesehen von einem einzelnen unangenehmen Zwischenruf aus dem Publikum stets sachlich geblieben ist. Im Vorfeld hatte die Entscheidung, ausgerechnet Vertreter von VW und ADAC zu einer Diskussion um die Zukunft der Mobilität einzuladen, hier und da für Stirnrunzeln gesorgt. Ich finde das völlig legitim und auch wichtig, mit diesen Akteuren zu diskutieren anstatt über sie. Allerdings: Inhaltliche Impulse konnten meines Erachtens weder Müller Pietralla noch Rettig setzen. Das blieb, wie oben schon beschrieben, vor allem Ingo Kollosche vorbehalten, der einen unabhängigen Blick auf das Geschehen hat.
Wichtig aber vor allem auch: Der Saal war brechend voll und die Menschen sind größtenteils bis zum Ende der Veranstaltung da geblieben. Die Themen Verkehr, Flächen- und Resourcengerechtigkeit und generell die Zukunft von Mobilität interessiert die Menschen nach wie vor. Das finde ich ermutigend, denn es gibt in Hannover zwar mittlerweile viele Kräfte, die hier vorankommen und die Verhältnisse durchgreifend ändern wollen – aber halt auch noch viele Kräfte, die dies entweder nicht mittragen oder sogar aktiv zu verhindern suchen. Es bleibt also spannend.