In der Ratssitzung am 2015-08-10 hat die Fraktion der Linken die Aktuelle Stunde „Flüchtlinge und Willkommenskultur in Hannover” beantragt. Folgendes habe ich zu dem Thema gesagt:
Herr Vorsitzender,
Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren,
ich bin Nachfahre von Flüchtlingen. Meine Großmutter war Jugendliche, als sie ihre Heimat verlassen – eben „flüchten“ – musste. Die Erzählungen von dieser „Flucht” habe ich als Kind oft gehört. Ich bin Anfang der 1970er Jahre in die – damals – westdeutsche Wohlstandsgesellschaft hinein geboren, ich konnte mir lange Zeit nicht wirklich etwas unter diesen Erzählungen vorstellen.
Meine Damen und Herren, das hat sich in den vergangenen Monaten stark geändert. Ich muss häufig an diese Erzählungen meiner Großmutter denken, wenn ich die Bilder sehe von Menschen, die hier ankommen – die noch genau das besitzen, was sie bei sich tragen. Wenn ich die Erzählungen von chaotischen, überfüllten Verkehrsmitteln höre. Von den Irrfahrten – hierhin, dorthin – um nur irgendwie weiterzukommen. Von auf der Flucht gestorbenen Kindern, damals erfroren auf Landstraßen, heute ertrunken am Mittelmeer. Zu vielen dieser Erzählungen aus meiner Familiengeschichte habe ich heute Bilder.
Mir ist erst durch diese Kombination aus Erzählungen von damals und Bildern von heute klar geworden, wie nah dieses Thema auch dann sein kann, wenn man eigentlich meint, es beträfe einen selbst gar nicht. Geflüchtet wurde auch in meiner eigenen Familie, gerade mal zwei Generationen vor mir, nicht mal 30 Jahre vor meiner Geburt.
Was ich damit sagen will: „Flucht“ ist immer etwas sehr Persönliches. Niemand sollte sich allzu sicher sein, dass ihn das Thema „Flucht” nicht viel schneller persönlich betrifft, als er sich das ausmalen kann. Es ist deshalb gut zu sehen, dass das heutige Deutschland in seiner großen Mehrzahl sehr offen auf die in dieser Zeit Ankommenden zugeht und große Anstrengungen unternimmt, sie so gut es geht zu versorgen.
Ich sehe in den vielen Menschen, die dieser Tage in Deutschland ankommen, eine große Chance für Land und Gesellschaft. Ich habe das an anderer Stelle schonmal aufgeschrieben unter der Überschrift „Holt sie her und lasst sie bleiben!” Die potentiellen Neubürger könnten diverse Probleme Deutschlands und Europas nachhaltig lösen, vom Fachkräftemangel über die Auswirkungen des demografischen Wandels bis hin zu einer größeren Weltoffenheit in der Gesellschaft insgesamt.
Zudem, und das ist für mich das wichtigste, ist die Hilfe für diese Menschen eine ethische Verpflichtung, wenn wir unsere Grundwerte ernst nehmen. Diejenigen Grundwerte, deren Einhaltung und Beachtung durch die Flüchtlinge von manchen so vehement gefordert wird in der momentanen Diskussion. Und da finde ich es übrigens bemerkenswert, wenn im selben Atemzug mit dieser Forderung ebendiese Grundwerte und ernsthaft das Asylrecht selbst in Frage gestellt wird, wie es in den vergangenen Tagen in der politischen Diskussion zu hören war. Dies spricht dem enormen zivilgesellschaftlichen Einsatz Hohn, den wir in den letzten Monaten beobachten konnten.
Trotzdem bleibt die Aufgabe groß. Hannover ist, denke ich, gut aufgestellt und ich bin sehr froh, dass es in Politik und Verwaltung hier einen überwältigenden Konsens gibt, auch große Anstrengungen zu unternehmen, alle Ankommenden menschenwürdig unterzubringen. Das funktioniert aber nur, weil auch die Zivilgesellschaft sich in hohem Maße einbringt. Dieses Engagement zu fördern halte ich deshalb für eine vordringliche Aufgabe der Zukunft. Ehrenamtliche Arbeit muss eine Perspektive haben; Mittel wie der Bundesfreiwilligendienst wären hier möglich, das geht allerdings über die kommunale Ebene hinaus. Aber: Die Stadt sollte die angekündigten Erleichterungen für den Bau von Flüchtlingsunterkünften nutzen, sobald dies möglich wird.
Es liegt in der Natur, dass Zeitzeugen irgendwann nicht mehr da sind. Auch meine Großmutter ist vor mittlerweile 7 Jahren gestorben. Ich kann sie also nicht mehr fragen, was sie zu den Flüchtlingen sagt. Ich bin mir aber sicher, dass sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte die Situation der hier Ankommenden sehr gut verstehen könnte und dass sie überhaupt nicht einverstanden wäre mit populistischen Ausgrenzungsforderungen, mit unsäglicher „Das Boot ist voll”-Propaganda. Und das hätte sie den ganzen AfD- und Pegida-Schreihälsen, der Hannoveraner-Gruppe und was da sonst noch so kreucht und fleucht auch deutlich gesagt. Sie und die allermeisten Menschen, die Krieg und Flucht mitten in Europa selbst miterlebt haben, können das mittlerweile nicht mehr. Es liegt an uns, auch ohne diese unmittelbaren Erfahrungen dieser Generation unsere Grundwerte hochzuhalten. Lassen Sie uns deshalb den Weg, den Hannover hier geht, entschlossen fortsetzen.
Vielen Dank.
Gute Rede.
Ich hoffe, der eine oder andere denkt nocheinmal über seine eigene Familiengeschicht nach.