Wenn die Dinge sich so realisieren, wie es die Stadtspitze es am Mittwoch dargestellt hat, dann steht Hannover vor einer Zeitenwende. Dann wurde dort ganz offizielle Ende der „autogerechten Stadt” eingeläutet. Dann werden wir in zehn Jahren entspannt und familienfreundlich zu Fuß oder mit dem Fahrrad über Straßen und Wege in die Innenstadt kommen, auf denen der Raum grundsätzlich neu verteilt wurde und Rad- und Fußverkehr einen viel größeren Anteil haben.
Aber auf Anfang. Am 10. Juni hatte die Stadt – relativ kurzfristig – zur Pressekonferenz eingeladen: „Oberbürgermeister Onay stellt die Pläne der Stadt für ein Veloroutennetz vor”. Bemerkenswerte 20 Medienvertreterinnen und ‑vertreter hatten sich eingefunden; die Corona-bedingt massiv zusammengeschrumpfte Bestuhlung des Mosaiksaals im Neuen Rathaus war voll belegt. Letztes Jahr war eine grundlegende Umgestaltung der Verkehrsverhältnisse in Hannover wichtiges Thema im OB-Wahlkampf. In Sachen Velorouten und Radverkehr war die wichtige Frage also: Würden sich die Ideen und Versprechungen aus dem letzten Jahr in den Ankündigungen von Oberbürgermeister und Verwaltung wiederfinden?
Um es kurz zu machen: Meiner Meinung nach hat Belit Onay geliefert! Die Verwaltung hat einen Plan für ein stadtweites Netz von Velorouten vorgelegt. Es geht maßgeblich zurück auf Ideen, die der ADFC im Winter 2017/2018 entwickelt hat. Klar, dass ich die gut finde, ich war an ihrer Entstehung intensiv beteiligt. Aber dass dieses Netzkonzept jetzt sowohl die verwaltungsinternen Prozesse als auch eine umfängliche Begutachtung durch Sachverständigengruppen weitgehend „überlebt” hat, zeigt meines Erachtens, dass wir damals ganz gute Arbeit geleistet haben.
Onay ist mit seinen Aussagen aber noch viel weiter gegangen: Mobilität sei Teilhabe; Radverkehr müsse nachhaltig gestärkt werden; Radverkehrsförderung geht nur mit guter Infrastruktur – wer hätte noch vor zwei Jahren gedacht, einen hannoverschen Oberbürgermeister so etwas sagen zu hören? Ich erinnere mich an ein Gespräch mit seinem Vorgänger, an dem ich im Jahr 2017 teilgenommen habe. Auf die Probleme des Radverkehrs in Hannover angesprochen kamen sehr schnell die üblichen Platitüden: Man muss an alle Verkehrsmittel denken, es gibt nicht nur Radfahrer, auch Radfahrer verhalten sich nicht immer regelkonform – das übliche Blah-blah zur Aufrechterhaltung des autoverkehrszentrierten Status Quo.
Dass die Stadtspitze sich jetzt vollständig anders äußert, ist für mich die eigentliche Nachricht des gestrigen Tages. „Radverkehr wird nicht zum Lifestyle, wenn Sie sich dafür jeden Morgen in Lebensgefahr begeben.” Selten wurde das Elend der Alltagsradlerin in Hannover besser zusammengefasst.
Der von Belit Onay formulierte Anspruch ist hoch: 12 Velorouten in 10 Jahren, 3 Radschnellwege in den nächsten Jahren, 40% Radverkehrsanteil bis 2030 – das klingt nicht viel, aber wer die politischen und verwaltungsrechtlichen Prozesse kennt, die hinter diesen Vorhaben stecken, ahnt, dass es dafür erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen braucht. Zumal Onay auch klar sagt: Es soll keine Provisorien geben, sondern eine „echte Wende” und „neue Rolle für den Radverkehr”.
Bezüglich des Radverkehrsanteils gilt in Hannover immer noch der politische Beschluss aus dem Jahr 2010 im Rahmen des „Masterplan Mobilität”: Auf 25% soll er bis zum Jahr 2025 steigen. Damals lag der Radverkehr real bei etwa 13%, sodass man die avisierte Verdoppelung mit etwas gutem Willen als „leidlich ambitioniert” bezeichnen könnte. Es ist gut, dass Onay jetzt deutlich macht, dass „25 bis ‚25” eigentlich nicht mal mehr als untere Messlatte taugt und der Radverkehrsanteil schneller steigen soll.
Dem Oberbürgermeister spielen dabei drei Entwicklungen in die Hände, auf die er nicht wirklich Einfluss hat: Zum ersten kollabiert das „System Auto” zunehmend unter seinen eigenen Massigkeit: Immer mehr und immer größere Autos finden schlicht keinen Platz mehr, zudem wird die Infrastruktur immer teurer und, siehe Südschnellweg, kommt in die Jahre. Zum zweiten führt das dazu, dass Hannover mittlerweile auf eine Reihe aktueller Beispiele für Stadtumgestaltungen, beispielsweise in ||https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/06/berlin-bezirke-plaene-25-neue-pop-up-radwege.html|Berlin]], Brüssel oder auch Bogota schauen kann, die alle zeigen, dass eine Stadt mit weniger Autoverkehr attraktiver ist und dass sich städtischer Raum viel besser als für fahrende oder gar parkende Kfz nutzen lässt.
Zum Dritten aber – und das könnte der eigentliche „Gamechanger” sein – gibt es seit neustem substanzielle Förderprogramme für Radschnellwege und städische Radverkehrsnetze. Die Veloroutenanträge der politischen Ebene sind aus deshalb zeitlich so stark gestreckt, damit die Gelder über einen längeren Zeitraum verteilt werden. Und: Sämtliche Pläne sind bislang ehrlicherweise krass unterfinanziert; für die Veloroute 03 mit ca. 7 km Länge sind ganze 500.000 EUR in den Haushalt 2019/2020 eingestellt.
Der Bund wird in den nächsten Jahren insgesamt knapp 1,5 Milliarden EUR Fördergelder für Radverkehrsnetze bereitstellen. Hannover befindet sich, auch Dank der Verwaltung, die die ADFC-Vorüberlegungen genutzt hat, in einer komfortablen Position bei der Antragsstellung: Ein beschlossener Plan für ein stadtweites Veloroutennetz könnte quasi genau rechtzeitig vorliegen, um ebendieses zu großen Teilen mit Bundesfördergeldern finanziert zu bekommen. Damit ließe sich die Bauzeit signifikant verkürzen und das Ziel von OB Onay, bis 2030 einen Radverkehrsanteil von 40 % zu erreichen, kann tatsächlich Realität werden.
Nun sind all diese Prozesse lange noch nicht abgeschlossen. Ehrlicherweise haben sie kaum angefangen. Der Oberbürgermeister hat zu Diskussion und Kritik an den Vorschlägen aufgefordert, damit sie am Ende noch besser werden. Aus den Konzeptideen müssen Anträge an die politischen Gremien werden, auf dass auf Bezirks- und Ratsebene Beschlüsse folgen. Es braucht Kapazitäten für die Ausarbeitung und bauliche Planung. Baurecht muss geschaffen werden. Und schließlich müssen die Änderungen umgesetzt werden.
All dies hängt maßgeblich davon ab, dass in Verwaltung und Politik der Wille existiert, die gesellschaftlichen Strömungen, die eine solche Umgestaltung der Stadt wollen, zu unterstützen. Dass dieser Wille an der Stadtspitze existiert, hat der Oberbürgermeister mit seinen Statements eindrucksvoll unter Beweis gestellt.
Und deshalb wird man im Rückblick vielleicht irgendwann mal sagen können, dass diese Pressekonferenz am 10. Juni 2020 ein historisches Ereignis war.
wustet ihr eigentlich schon, dass Braunschweigs früherer SPD-Oberbrürgermeister vor über 20 Jahren behauptet hat, „Fahrradstadt Nummer zwei hinter Münster” zu sein :o)
Also: Haltet Euch ran, schlechter als hier kanns kaum werden :o)
Also „geliefert” ist ein Veloroutennetz erst, wenn man drauf fahren kann. Und der „Prozess” dahin interessiert außer Verwaltungsfachleuten und Politikern eigentlich niemanden. Wenn der Prozess nicht schlank genug ist, muss man ihn eben vereinfachen, er ist ja nicht gottgegeben, sondern menschengemacht. Die Politik hat es in der Hand, hier entsprechende Prioritäten zu setzen.
Lieber Dirk,
vielen Dank für diesen Blockbeitrag, in dem eindrucksvoll dargestellt wird, was für ein großer Wurf das werden soll und was alles dabei zu bedenken ist. Deshalb ist es wichtig, dass den Hannoveraner*innen deutlich gemacht wird, was für ein Potential in diesen Vorschlägen des OB steckt. Belit Onay ist OB und damit Chef der Verwaltung, der diesen Orozess steuert.
Gitze Witte